»Dieser Film hat einen roten Faden, nämlich: Was ist das: Normalität? Was ist das: Ein Land, in dem jeder Jude ist? Das ist das Entscheidende vom Standpunkt eines Juden aus der Diaspora – und das waren sie ja letztlich alle. Der ganze Film spielt damit, mit der Normalität und der A-Normalität. Ich zeige in WARUM ISRAEL, dass die Normalität das eigentlich Anormale ist.«
(Claude Lanzmann)
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Synopsis
Das Filmdebüt des engagierten Publizisten und Sartre-Weggefährten Claude Lanzmann (SHOAH) ist fraglos eines der bemerkenswertesten Zeitdokumente über den Staat Israel und sein Selbstverständnis, seine religiösen und politischen Fundamente und vor allem: seine Bürger. Sie sind es, die im Film zu Wort kommen – Angehörige der ersten Siedlergeneration, Neueinwanderer aus der Sowjetunion, Arbeiter, Intellektuelle, junge Israelis. Ohne belehrenden Kommentar, ohne jede propagandistische Geste, dafür mit großer persönlicher Anteilnahme und viel Humor, spürt Lanzmann den Errungenschaften und Widersprüchen einer entstehenden israelischen Nation nach. So ergibt sich ein lebendiges Panorama der einzigartigen Vielfalt dieses Landes, seiner Paradoxien, Spannungen – und seiner schwierigen »Normalität«.
Die
Befragten
»Was ist das: Normalität?«
Claude Lanzmann im Gespräch über WARUM ISRAEL (2007)
Die Ursprünge von WARUM ISRAEL liegen im Dunkeln – es gibt keine geradlinige Kausalität in einem solchen Fall. Als der Staat Israel 1948 gegründet wurde, ist das in gewisser Weise gänzlich an mir vorbeigegangen. In jenem Jahr befand ich mich nämlich in Deutschland, als Universitätsdozent in Tübingen und in Berlin während der Blockade und der Luftbrücke. Die Stadt war bereits geteilt, und komischerweise kümmerte ich mich um die Deutschen. Die deutschen Studenten, die männlichen, waren alle älter als ich, weil sie aus den Gefangenenlagern kamen. Die Frauen hatten das übliche Alter. Ich nahm mit ihnen Das Sein und das Nichts von Sartre durch und Rot und Schwarz von Stendhal. Eines Tages kamen sie zu mir und fragten mich, ob ich nicht ein Seminar über Antisemitismus halten könnte. Ich habe darüber nachgedacht und mich dann darauf eingelassen, ihnen aber gesagt, dass ich nicht wüsste, wie ich es anstellen sollte. Wir mussten also gemeinsam erfinderisch werden, sie und ich.
Für mich persönlich war das sehr schwierig. Ich habe den Krieg erlebt, ich hatte nur kurzzeitig einen Ausweis mit Judenstempel. Ich bin in der Résistance gewesen, im Widerstand. Ich habe den Vorkriegs-Antisemitismus erlebt, einen gewalttätigen Antisemitismus. Ich habe schreckliche Dinge erlebt, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Und dann der Krieg, die Résistance. Ich habe gegen die Deutschen gekämpft und wirklich welche getötet. Mein Vater war einer der Anführer der Résistance in der Auvergne, mein Bruder war auch dabei. Wir haben gekämpft, uns versteckt, wieder gekämpft, und das fast fünf Jahre lang. Und dann, nach dem Krieg, kam das berühmte Buch von Jean-Paul Sartre Überlegungen zur Judenfrage, 1946 erschienen. Es war ein sehr wichtiges Buch für mich, entscheidend, befreiend.
Man hielt Sartre damals – und man kann es heute noch vertreten – für einen der größten Schriftsteller Frankreichs. Ein Voltaire und vieles mehr. Das Buch zeichnet in der Tat ein hervorragendes Portrait des Antisemiten und enthält wichtige Überlegungen über die jüdische Authentizität. Was sind unauthentische Verhaltensweisen des Juden, sprich Verhaltensweisen der Angst oder der Scham? Wir alle haben das erfahren, ich selbst habe es erfahren. Der Jude fühlt sich bedroht. Das ist sehr komplex. Ich versuche gerade selbst, ein Buch über all das zu schreiben, daher meine Zurückhaltung, darüber zu sprechen. Ich hatte also während des Krieges mehr Zeit in der Résistance verbracht als in der Schule und kam erst im Januar 1945 zurück nach Paris – ich hatte meine Mutter seit 1938 nicht gesehen …
Und komischerweise fing ich an, Philosophie zu studieren. Und trotz all dem, was passiert war: Deutschland war für uns Studenten das Land der Dichter und Denker geblieben, der großen Philosophen: Kant, Fichte, Hegel, Schopenhauer. 1947 fuhr ich also nach Deutschland, um mein Studium dort mit einer Arbeit über Leibniz abzuschließen; ich hätte das auch in Paris gekonnt, hatte aber Gründe, nach Deutschland zu gehen. Ich verbrachte ein Jahr an der Universität in Tübingen mit Michel Tournier. Für die Anekdotensammlung fällt nebenbei ab, dass wir oft zusammen ausritten …
Dann begann der Kalte Krieg, nicht plötzlich natürlich, sondern so nach und nach, und man schlug mir die Dozentur an der FU Berlin vor, wo ich kurz nach der Blockade eintraf. Ich blieb ein Jahr in Berlin und bin dann heimlich nach Ostdeutschland rüber. Ich fuhr heimlich in die DDR, weil die Russen mir kein Visum geben wollten. Ich habe nachts auf Plätzen, in Parks geschlafen. Ich habe wirklich viel riskiert. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die mich erwischt hätten. Ich hatte einige Adressen, ein Netzwerk von protestantischen Pfarrern, die zu zittern anfingen, wenn ich kam. Zurück in Frankreich habe ich eine Serie von 10 Artikeln geschrieben, die ich an Le Monde sandte, ohne irgendjemanden zu kennen. Drei Tage später haben sie mir geantwortet, dass sie meine Reportage unter dem Titel Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang publizieren wollten. Das gefiel mir gut, und also bin ich nach Israel gefahren mit dem Gedanken, dies zu wiederholen.
Die Wahrheit ist, dass ich ohne jüdische Kultur aufgewachsen bin, ohne jüdische Tradition, ohne jüdische Religion. Meine Familie stammt aus Osteuropa. Mein Vater ist am 14. Juli 1900 in Paris geboren, mein Großvater väterlicherseits wurde 1913 mit 39 Jahren »eingebürgert« – wie man so schön sagt. Am ersten Tag des Ersten Weltkriegs trafen Steine die Schaufenster seines Antiquitätenladens im XVIII. Arrondissement von Paris, weil der Name irgendwie Deutsch klang. Am selben Tag wurde er eingezogen, weil er gerade eingebürgert worden war. Er war 40 Jahre alt und wurde gemeinsam mit 20-jährigen eingezogen. So kämpfte er den gesamten Krieg in erster Frontlinie als Grenadier. Er wurde dreimal verwundet, erhielt diverse Kriegsauszeichnungen etc. Mein Vater meldete sich seinerseits mit 17 freiwillig und erlitt eine Senfgasvergiftung an der Somme. Man kann also sagen: Ich bin ein gebürtiger Franzose, ein Stammesfranzose, ein Franzose durch und durch.
Wie eben schon gesagt: Als ich nach Deutschland kam, stand ich dem Zionismus gleichgültig gegenüber, ich wusste von nichts, und als am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel ausgerufen wurde, kümmerte ich mich um meine deutschen Studenten. Ich hatte überhaupt nicht vor, einen Film über Israel zu machen. Ich bin nach Israel gefahren, im Gepäck die Vergangenheit, die ich gerade skizziert habe, und das Buch von Jean-Paul Sartre. Was sind diese Juden, die keine Juden sind? Ich wusste nicht, dass ich kein Jude war. In Israel habe ich die jüdische Besonderheit entdeckt, habe ich entdeckt, dass es ein echtes jüdisches Volk gibt, eine Kultur, eine gemeinsame Tradition dieser Menschen aus allen Teilen der Welt. Meine Großeltern waren von dort. So hatte ich plötzlich das Gefühl, als sei ich nur zufällig Franzose geworden und als hätte es mich genauso gut dort oder woandershin verschlagen können. All das gab mir viele Rätsel auf. Der Idealismus der Israelis hat mich sehr bewegt, ihre Selbstverleugnung und Opferbereitschaft.
Als ich dort war, starb man vor Hunger; das Land bestand erst seit vier Jahren, es waren die mageren Jahre. Ich habe die ganze Zeit Hunger gelitten, mehr als während der Besatzung in Frankreich. Ich lernte bei der Überfahrt Leute kennen, die mich zu sich einluden. Ich nahm die Einladung an und blieb drei Monate bei diesen armen Leuten ohne Geld, aber von bemerkenswerter Großzügigkeit. All das bewegte mich sehr, verstrickte mich, und mir wurde klar, dass ich die Reportage nicht würde schreiben können, weil das zu persönliche und zu intime Bereiche berührte. In gewisser Weise ging das die potentiellen Leser meiner Reportage nichts an, und als ich nach Frankreich zurückkam, sprach ich darüber mit Sartre und Simone de Beauvoir, die ich seit kurzem kannte. Sartre sagte zu mir, dass er mich gut verstehen könne und fügte hinzu: »Dann schreiben Sie ein Buch!« Ich hielt das für eine sehr gute Idee, schrieb an die hundert Seiten, die gut waren, und hörte dann auf. Ich war beim Schreiben des Buches auf dieselben Probleme gestoßen und hatte wohl nicht die innere Kraft, die Dinge zu sagen, mich in gewisser Weise selbst zu erforschen – so gab ich es auf. Es gab also eine nicht realisierte Reportage und ein gescheitertes Buchvorhaben. Zwanzig Jahre später wurde daraus ein Film. Die Frage ist also nicht, wie ich von der Schrift zum Kino gekommen bin, sondern warum es das Kino war, das es mir mit zwanzigjähriger Verspätung ermöglicht hat, all das zu sagen, was ich während dieser ersten großen Reise empfunden hatte. Ich hatte Zeit gehabt zu reifen und wusste nun, was ich machen wollte.
Einige Szenen in WARUM ISRAEL sind ganz und gar inszeniert. Dieser Film hat einen roten Faden, nämlich: Was ist das: Normalität? Was ist das: Ein Land, in dem jeder Jude ist? Das ist das Entscheidende vom Standpunkt eines Juden aus der Diaspora – und das waren sie ja letztlich alle. Der ganze Film spielt damit, mit der Normalität und der A-Normalität. Ich zeige in WARUM ISRAEL, dass die Normalität das eigentlich Anormale ist, und dabei ist WARUM ISRAEL ebenso sehr ein Film über mich wie über Israel. Wenn ich etwa die Polizistin frage, wie es sich anfühlt, Juden zu verhaften, dann versteht sie meineFrage erst gar nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, was ich meine, verstehe mich nicht. Darauf ich: »Ist das nicht erstaunlich für Sie?« Sie verneint und sagt, sie habe noch nie einen Araber verhaftet, immer nur Juden. Ebenso der Polizeihauptkommissar, der in Auschwitz gewesen ist und der sagt, dass man in einem jüdischen Staat mit einer jüdischen Armee keine nicht-jüdischen Polizisten einsetzen könne. Genau darum dreht sich der ganze Film. Nehmen wir das Gefängnis: Dort findet zum Beispiel eine Szene statt, die ich spielen lasse und in der diese Sache mit der Normalität/Anormalität zum Vorschein kommt. Um das zeigen zu können, muss man inszenieren, spielen lassen.
Bei meiner ersten Israel-Reise kam mir all das schon unerhört, unglaublich vor. Zum Beispiel: Auf dem Schiff, das ich in Marseille bestiegen hatte, teilte ich die Kabine mit einem großgewachsenen Rabbi aus Marrakesch, glaube ich, jedenfalls war er Marokkaner, der kein Wort Französisch sprach, nur Arabisch und Hebräisch. Ich für meinen Teil sprach weder das eine noch das andere. Er war ein hochgeschossener Typ mit schönen blauen Augen, dünn, mit dicken Socken im Hochsommer. Fragte mich auf Hebräisch, ob ich Jude sei, das Wort kannte ich und so bejahte ich, worauf er mir widersprach. In seinen Augen war ich kein Jude, denn ich beachtete nicht die Gebote. Auch kam am ersten Morgen eine Israeli in meine Kabine auf diesem israelischen Schiff, um zu putzen. Und ich habe es nicht ertragen können, sie vor mir auf allen Vieren kriechen zu sehen, um die Kabine zu putzen. Ich habe sie aufgerichtet, sie blickte mich an und hielt mich wohl für verrückt. Sie hatte recht. Und so kam es, dass die Kabine nicht mehr gereinigt wurde …
Um noch einmal auf die gespielten Szenen zurückzukommen, von denen gab es mehrere, aber eine ist besonders interessant, und so werde ich erzählen, wie ich sie gedreht habe: die Szene mit den amerikanischen Juden im Supermarkt. Da sind sie also, kommen ins Schwärmen bei all den jüdischen Produkten … Ihr zweites Auftauchen im Film zeigt übrigens in Wirklichkeit unser erstes Zusammentreffen. Da fragte ich mich, wie sich das darstellen lassen könnte. Dieses Erstaunen
vor der Normalität war so unglaublich, diese Blendung: die Anormalität. Ich fragte sie also nach ihrer Reiseroute und erfuhr, dass sie sich am Tag X in Jerusalem einfinden würden. Ich richtete es so ein, dass ich auch da sein konnte; ich habe ihr Hotel aufgesucht und habe sie auch gesehen, bin ihnen sogar gefolgt. Sie waren in einem Bus, den ich anhielt. Ich bin eingestiegen und habe ihnen nach einer kurzen Begrüßung erklärt, dass ich einen Film über Israel drehte, über das, was passiert war. Ich fragte sie, ob es ihr erstes Mal in Israel sei, was ich ja bereits wusste seit unserem letzten Treffen, und erzählte ihnen, wie es mir beim ersten Mal ergangen war. Danach fragte ich sie, ob sie es genauso empfunden hätten. Genau so. Also sagte ich: »Sehr gut, drehen wir sofort, kommen Sie mit!« Ich brachte sie in einen großen Supermarkt in Jerusalem, gab ihnen einige Anweisungen: »Los, seid erstaunt!« Sie verstanden sofort, was ich sagen und tun wollte, sie fühlten und lebten es ja selbst und haben es folglich auch wunderbar gespielt. Diese Szene ist wirklich toll und sehr komisch. Man lacht viel, und sie, die Amerikaner, lachten besonders, als sie sie sahen. Das also, das ist durchweg eine gespielte Szene.
Beim Wiedersehen der beiden russischen Brüder hingegen war das überhaupt nicht der Fall. Jeden Tag kamen Russen an, und nach einigen Tagen oder Wochen hatten sie nur den einen Wunsch: Israel wieder zu verlassen, obwohl andere es, wenn auch mit ernsten Schwierigkeiten, schafften, den schrecklichen Schock des Neuen zu überwinden, sprich das Land zu wechseln, die Sprache, alles … Das war schon immer so, zu allen Zeiten und durch alle Schichten von Immigranten hindurch.
Ich hatte mich umfassend vorbereitet. Ich war mehrere Nächte hintereinander auf den Flughafen gegangen, um zu sehen, wie alles vor sich ging, und als ich mich entschied zu drehen, kamen Leute an. Also fing ich an, diesen Mann mit dem schönen Gesicht zu befragen, der seinen Bruder seit 38 Jahren nicht gesehen hatte. Er sagt mir, sein Bruder sei unten, aber man ließe ihn nicht zu ihm durch. Ich also: »Ich gehe ihn holen!« und bin los. Ich habe ihn gefunden und habe die beiden Polizisten, die mich begleiteten, gebeten, ihn hereinzulassen. Was dann passierte, ist sehr schön. Der Bruder, der gerade aus Russland angekommen ist, sieht mich an, sieht die Kamera an, bevor er die Arme ausbreitet, um zu wissen, ob wir bereit sind. So eine unglaubliche Höflichkeit. Als ich bejahe, fallen sich die Brüder in die Arme und weinen. Man kann also höflich sein, ohne dass das Gefühl darunter leidet. Das ist wirklich eine große Lektion. Oder das junge russische Paar, das ich begleite und das nach einem Monat wieder abreisen will. Ich hatte mir bei ihrer Ankunft gesagt, dass ich sie nach einem Monat aufsuchen würde. Dabei hatte ich mir geschworen, nichts zu verfälschen. Ginge es ihnen gut, würde ich es zeigen, ginge es ihnen nicht gut, ebenso, und ich habe es gezeigt. Für einen Ausgleich sorgten die Szenen mit den Juden aus Dimona. […]
Das also sind die Quellen von WARUM ISRAEL, aber der Film zeigt noch viel mehr, die jüdische Solidarität, die Solidarität der Juden aus der ganzen Welt diesem Land gegenüber. Der Sänger, der den Film eröffnet mit seinem Spartakisten-Lied, ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend; er steht auch für die Nostalgie nach Europa, die viele verspürten, denn Israel ist ein hartes Land. Nach diesem Film wollten viele aufbrechen in den Hebräischen Staat. In Frankreich und anderswo sang die Kritik regelrechte Loblieder. Juden wie Nicht-Juden waren verrückt nach dem Film. In den Vereinigten Staaten ist der Film aber zum Beispiel nicht wirklich gesehen worden. Er sollte beim Festival von New York am 7. Oktober 1973 laufen. Er lief auch tatsächlich im Lincoln Center, aber es war eben zugleich der erste Tag des Jom-Kippur-Kriegs, nach der ägyptischen Offensive gegen Israel. Also wollte meine Frau, die ich in Israel kennen gelernt hatte, unverzüglich abreisen. In Paris fand die Premiere am 11. Oktober statt, es folgten einige andere Städte, dann brach ich nach Israel auf. Es war wirklich unerträglich, nichts tun zu können. Nach Kriegsende flog ich erneut in die USA, damit der Film dort gespielt würde. Die Kritiken waren mehr als gut, ich denke da an Variety, den Hollywood Reporter, die New York Times … – kurzum: an alle, die bei der Uraufführung im Lincoln Center dabei gewesen waren.
Ein junges Mädchen hatte mich da übrigens während der Pressekonferenz gefragt: »Aber was ist Ihre Heimat, Herr Lanzmann? Frankreich oder Israel?« Ich erinnere mich geantwortet zu haben: »Mein Film ist meine Heimat.« WARUM ISRAEL fand jedenfalls keinen Verleih in den USA. Er lief in Frankreich, in Deutschland und in wenigen anderen Ländern. Bald darauf nahm mich die Arbeit an SHOAH ganz in Anspruch, und ich habe den Film erst vor einigen Jahren für mich wiederentdeckt und wirklich nicht verstanden, warum er nicht mehr gezeigt wird. Es ist ein toller Film. Die Vorführung im Rahmen von Cannes Classics 2007 und die DVD-Veröffentlichungen haben nun neue Möglichkeiten eröffnet. Und tatsächlich, es ist wirklich ein Werk, das nicht gealtert ist, auch wenn sich die Dinge verändert haben. Man sollte den Film nicht ansehen und dabei das Israel von damals mit dem von heute vergleichen. Und doch sind es dieselben Leute, in ihrem Wesen haben sie sich nicht verändert. […]
Meine Filme haben letztlich alle dieselbe Quelle: die ›Shoah‹, die auch in WARUM ISRAEL präsent ist. Und zwar explizit am Anfang und am Ende des Films: Die Aufzählung der Namen, meines Namens, meines Familiennamens, schreibt sich in die ›Shoah‹ ein. Mir war nicht bewusst, eine so große Familie zu haben; es sind keine Verwandten, aber Leute meines Volks, das ist dasselbe. Das verbindet die Filme der Trilogie SHOAH, POURQUOI ISRAEL, TSAHAL. Diese drei Filme hängen zusammen, sind zutiefst ineinander verwoben. […]
[Postskriptum:] Ich habe noch nicht über die politischen Gründe für diesen Film gesprochen. Ich habe mich sehr viel mit den antikolonialistischen Kämpfen beschäftigt. Ich habe das Manifest der 121 unterschrieben [das französische Soldaten zur Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg aufrief. Anm. d. Ü.], ich bin einer der 10 Angeklagten. Ich leite diese Zeitschrift Temps Modernes, in der ich auch selbst vieles geschrieben habe, das immer wieder der Zensur zum Opfer gefallen ist. Ich habe mich sehr intensiv mit der algerischen Frage beschäftigt und war immer der Ansicht, dass man sehr wohl zugleich Verfechter eines unabhängigen Algeriens und des Staates Israels sein könne. Dann wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Ich habe die Algerier kennen gelernt, etwa den jetzigen Präsidenten Herrn Bouteflika; den lernte ich kennen als jungen Kapitän mit blauen Augen, der mir von der Schönheit eines Hinterhalts in der Wüste vorschwärmte und mir zugleich sagte, dass Algerien nach Erreichen der Unabhängigkeit Missionen nach Israel schicken sollte: »Weil wir viel von den Israelis lernen können«, sagte er mir. »In welchen Bereichen?« fragte ich. »Bewässerung, Entwaldung, das Kibbuz-System.« Ich habe Briefe von Ben Bella, der mir aus dem Gefängnis schrieb und mich »Mein Bruder« nannte. Ich war in Rabat, als sie nach Erklärung der Unabhängigkeit an den Truppen der Nationalen Befreiungsarmee vorbeimarschierten, zu denen Ben Bella sagte: »Ihr seid unser Blut.« Und kurz danach befreite er seinerseits 100.000 Männer, um Palästina befreien zu gehen. Es war vorbei. Dann war da der 6-Tage-Krieg, den die Israelis gewannen und nach dem ein Großteil der antikolonialistischen Linken, ein Großteil meiner Kampfgenossen, anfing, auf Israel herumzuhacken mit dieser hundsgemeinen Pauschalisierung: Das sind Sieger, das sind Nazis, mit der daraus folgenden neuen Opferrolle der Araber. Es war unglaublich. Ich habe also diesen Film gemacht, um ihnen zu antworten, ihnen zu sagen, dass Israel kein Volk von Mördern, sondern ein Volk von Flüchtlingen ist, ein Volk von alten Frauen. Es gibt also zwei große Erklärungen für diesen Film: einerseits die Vergangenheit, dieses gescheiterte Buchprojekt und die unvollendete Reportage, andererseits diese genuin politischen Gründe.
Quelle: dvdrama.com (Interview anlässlich der französischen DVD-Premiere)
Übersetzung der Auszüge: Valeska Bertoncini
Claude
Lanzmann
Claude Lanzmann
1925 als Sohn assimilierter Juden in Paris geboren, schließt sich Lanzmann 1943 als Gymnasiast in Clermont-Ferrand der Résistance an. Nach dem Krieg Studium der Philosophie und Literatur. 1947 Universitätsabschluss in Tübingen, 1948/49 Dozentur an der FU Berlin. Anfang der 1950er Jahre Beginn seiner journalistischen Tätigkeit mit einer Serie von Reportagen über den Alltag in der DDR, die in Le Monde erscheinen. Seit 1952 und seit seiner Begegnung und engen Freundschaft mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir ständiger Mitarbeiter, später Herausgeber der von ihnen gegründeten politisch-literarischen Zeitschrift Les Temps Modernes. Vehementes Engagement gegen die französische Algerien-Politik.
Ende der 1960er Jahre erste Film- und Fernseharbeiten. 1968/69 Fernsehreportage über den ›Abnutzungskrieg‹. Die Filmarbeit wird Lanzmanns intensive Auseinandersetzung mit Israel über die Jahre stetig vertiefen. Sein Kinofilmdebüt WARUM ISRAEL (1973), mit dem er sich gänzlich vom Fernsehen löst und zu einer eigenen Filmsprache findet, ist eine fragend-heitere Annäherung an die noch junge Nation. Nach dem Erfolg seines Erstlings bittet das israelische Außenministerium Lanzmann um einen Film über die Judenvernichtung, ohne zu wissen, worauf es sich einlässt. Die ursprüngliche Auftragsarbeit wird jeden vorgesehenen Rahmen sprengen: Im Sommer 1973 Beginn der Arbeit an SHOAH, den er 1985 – also fast 12 Jahre später – fertig stellt. Biografisch ein Abenteuer mit offenem Ausgang, cineastisch und historisch ein Großereignis, das die Grenzen des Dokumentarfilms radikal verschiebt und weltweit größte Anerkennung findet. Nicht nur für die Washington Post stellt die 9 ½ stündige Spurensuche mit Opfern, Tätern und Statisten der Judenvernichtung im Nationalsozialismus »Das Filmereignis des Jahrhunderts!« dar. Das ist nicht mehr der gängige Versuch, mittels Archivmaterial die historischen Ereignisse zu rekonstruieren und faktisch zu beglaubigen, noch geht es darum, die Ermordung des europäischen Judentums à la Spielberg fiktional in den Blick zu bringen. Lanzmann findet mit seiner Ausnahme-Dokumentation vielmehr zu einer ganz eigenen Form filmischen Gedenkens, indem er alles auf die Vergegenwärtigung in den Körpern und Stimmen seiner Zeugen setzt und auf die stumme Untröstlichkeit der Orte der Vernichtung, über die inzwischen Gras gewachsen ist.
Nach WARUM ISRAEL und SHOAH stellt er 1994 mit TSAHAL seinen Film über die israelischen Streitkräfte fertig, den letzten Teil seiner jüdischen Trilogie. Ein Abschluss, und doch kein Ende: Das Mittelstück der Trilogie, sein Hauptwerk SHOAH, erweist sich fortan buchstäblich als Lebenswerk – »als unerschöpfliche Quelle«. Durch die schiere Menge an gedrehtem Material mit den unterschiedlichsten Zeugen nämlich hat dieses Jahrhundert-Filmprojekt, das so folgenreich auf die Modi der dokumentarischen Absicherung durch Archivdokumente verzichtet, gleichwohl selbst wichtiges Archivmaterial produziert: rund 200 Stunden nicht verwendete Film-Interviews mit zahlreichen inzwischen verstorbenen Zeugen – einige davon bekannt aus SHOAH (i. e. Outtakes der verarbeiteten Gespräche), aber auch eine Vielzahl weiterer Interviews, die während der Konstruktion des Films ganz aufgegeben wurden und die nun im United States Holocaust Memorial Museum verwahrt und öffentlich zugänglich gemacht werden.
Über eine Dekade ließ der Regisseur nach der Premiere von SHOAH verstreichen, bevor er sich daran machte, aus dieser Flut an Rohmaterial behutsam weitere Nebenarme auszuwählen und neue Filme zu schaffen, um das Gedrehte erneut zum Sprechen zu bringen. Das reine Dokument dient ihm dabei stets nur als Zündung für neue filmische Konstruktionen. Diesmal nicht als kunstvoll ineinander verwobener Chor von Stimmen: Er wählt sich jeweils einen Kronzeugen, bereist die Orte erneut und beleuchtet ein Thema, das den strengen Rahmen von SHOAH – dieser heillosen Fürsprache für die Toten – gesprengt hätte: das Versagen der Hilfsorganisation (EIN LEBENDER GEHT VORBEI, 1997), der Heldenmut des jüdischen Aufstands (SOBIBOR, 14. OKTOBER, 16 UHR, 2001), das ungläubige Wissen der ›freien Welt‹ (DER KARSKI-BERICHT, 2010), die unlösbaren moralischen Konflikte der ›Judenältesten‹ (DER LETZTE DER UNGERECHTEN, 2013) oder vier gänzlich unterschiedliche Leidenswege überlebender Frauen (VIER SCHWESTERN, 2017). Es sind dies ebenso eigenständige Werke der Filmkunst wie Fortschreibungen des Hauptwerks.
Zahlreiche Ehrungen
Lanzmann erhielt u. a. die Médaille de la Résistance, ist Kommandeur des Ordre National du Mérite, Kommandeur der Légion d’Honneur (Ehrenlegion) – die ranghöchste Auszeichnung in Frankreich für militärische und zivile Verdienste. Ehrendoktorate (Philosophie) der Hebräischen Universität Jerusalem, der Universität von Amsterdam, der Adelphi University, New York, und der European Graduate School in Saas-Fee, Schweiz. Seit 1998 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Film- und Medienkunst. Claude Lanzmann starb am 5. Juli 2018.
»Dieser Film ist viel eher eine Antwort als eine Frage. Es sind die zwei letzten Worte eines Satzes wie: ›Hier zeige ich euch, warum Israel‹. / ›Darum Israel‹ wäre vielleicht passender gewesen, aber ihm wäre jede Poesie abgegangen. / Der Titel stellt die Existenz Israels nicht in Frage. Mit einem Fragezeichen hätte die Antwort womöglich negativ ausfallen können, was nicht in Frage kam. Das Fehlen eines Fragezeichens ist wesentlich.«
(Claude Lanzmann)
Impressum
Redaktion Valeska Bertoncini
Design Christin Albert
absolut Medien, Am Hasenbergl 12, 83413 Fridolfing
info@absolutmedien.de
www.absolutmedien.de
DVD
vimeo
Warum Israel
Ein Film von Claude Lanzmann
Das Filmdebüt des engagierten Publizisten und Sartre-Weggefährten Claude Lanzmann (SHOAH) ist fraglos eines der bemerkenswertesten Zeitdokumente über den Staat Israel und sein Selbstverständnis, seine religiösen und politischen Fundamente und vor allem: seine Bürger. Sie sind es, die im Film zu Wort kommen – Angehörige der ersten Siedlergeneration, Neueinwanderer aus der Sowjetunion, Arbeiter, Intellektuelle, junge Israelis. Ohne belehrenden Kommentar, ohne jede propagandistische Geste, dafür mit großer persönlicher Anteilnahme und viel Humor, spürt Lanzmann den Errungenschaften und Widersprüchen einer entstehenden israelischen Nation nach. So ergibt sich ein lebendiges Panorama der einzigartigen Vielfalt dieses Landes, seiner Paradoxien, Spannungen – und seiner schwierigen »Normalität«.
»Dieser Film hat einen roten Faden, nämlich: Was ist das: Normalität? Was ist das: Ein Land, in dem jeder Jude ist? Das ist das Entscheidende vom Standpunkt eines Juden aus der Diaspora – und das waren sie ja letztlich alle. Der ganze Film spielt damit, mit der Normalität und der A-Normalität. Ich zeige in WARUM ISRAEL, dass die Normalität das eigentlich Anormale ist.«
(Claude Lanzmann)
Die
Befragten
Gert Granach
Bürger von Jerusalem, 1933 in Berlin Mitglied der KJD
R. J. Zwi Werblowsky
Professor für Religionsgeschichte
Ygal Yadin
Professor der Archäologie, ehem. Stabschef der Armee
Zushy Posner
Schuster, Chassid der Lubawitscher Bewegung
Dolf Michaelis
Deutscher Jude, Bankier
Abraham Yoffe
Naturschützer, General der Reserve
Ran Cohen
Generalsekretär Kibbuz Gan Schmuel
Der »Papa« von Dimona
Siedler der ersten Stunde
Die Brüder Polessiou
Einwanderer aus der Sowjetunion
Oberst Benjamin Shalit
Chefpsychologe der Armee
Avraham Schenker
Mitglied der zionistischen Exekutive
Jacques Barkat
Hafenarbeiter in Aschdod
Genia Gordjetski
Sowjetischer Siedler in Arad
Leon Rouach
Kustos im Museum Dimona
Beno Grünbaum
Kibbuz Gan Schmuel
Schmuel Bogler
Polizei-Hauptkommissar
Die Schwarzen Panther
Bewegung der arabischen Juden
Baruch Narshon mit Claude Lanzmann
Siedler in Hebron, Bildender Künstler
»Endlich hier!«
Sowjetische Einwanderer
Noamah Flapan
Junge Israelin, Tochter von Sarah und Simcha Flapan
Was
ist
das:
Normalität?
Das Interview auf der DVD
43 Min. Podiumsgespräch mit Claude Lanzmann
(Französisch mit englischen UT).
Organisiert vom ›Mémorial de la Shoah‹, Paris. Moderation: Jacques Fredj, Direktor. Mit: Claude Lanzmann, Éric Marty, Serge Toubiana
Quelle: dvdrama.com (Interview anlässlich der französischen DVD-Premiere)
Übersetzung der Auszüge: Valeska Bertoncini
»Was ist das: Normalität?«
Claude Lanzmann im Gespräch über WARUM ISRAEL (2007)
Die Ursprünge von WARUM ISRAEL liegen im Dunkeln – es gibt keine geradlinige Kausalität in einem solchen Fall. Als der Staat Israel 1948 gegründet wurde, ist das in gewisser Weise gänzlich an mir vorbeigegangen. In jenem Jahr befand ich mich nämlich in Deutschland, als Universitätsdozent in Tübingen und in Berlin während der Blockade und der Luftbrücke. Die Stadt war bereits geteilt, und komischerweise kümmerte ich mich um die Deutschen. Die deutschen Studenten, die männlichen, waren alle älter als ich, weil sie aus den Gefangenenlagern kamen. Die Frauen hatten das übliche Alter. Ich nahm mit ihnen Das Sein und das Nichts von Sartre durch und Rot und Schwarz von Stendhal. Eines Tages kamen sie zu mir und fragten mich, ob ich nicht ein Seminar über Antisemitismus halten könnte. Ich habe darüber nachgedacht und mich dann darauf eingelassen, ihnen aber gesagt, dass ich nicht wüsste, wie ich es anstellen sollte. Wir mussten also gemeinsam erfinderisch werden, sie und ich.
Für mich persönlich war das sehr schwierig. Ich habe den Krieg erlebt, ich hatte nur kurzzeitig einen Ausweis mit Judenstempel. Ich bin in der Résistance gewesen, im Widerstand. Ich habe den Vorkriegs-Antisemitismus erlebt, einen gewalttätigen Antisemitismus. Ich habe schreckliche Dinge erlebt, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Und dann der Krieg, die Résistance. Ich habe gegen die Deutschen gekämpft und wirklich welche getötet. Mein Vater war einer der Anführer der Résistance in der Auvergne, mein Bruder war auch dabei. Wir haben gekämpft, uns versteckt, wieder gekämpft, und das fast fünf Jahre lang. Und dann, nach dem Krieg, kam das berühmte Buch von Jean-Paul Sartre Überlegungen zur Judenfrage, 1946 erschienen. Es war ein sehr wichtiges Buch für mich, entscheidend, befreiend.
Man hielt Sartre damals – und man kann es heute noch vertreten – für einen der größten Schriftsteller Frankreichs. Ein Voltaire und vieles mehr. Das Buch zeichnet in der Tat ein hervorragendes Portrait des Antisemiten und enthält wichtige Überlegungen über die jüdische Authentizität. Was sind unauthentische Verhaltensweisen des Juden, sprich Verhaltensweisen der Angst oder der Scham? Wir alle haben das erfahren, ich selbst habe es erfahren. Der Jude fühlt sich bedroht. Das ist sehr komplex. Ich versuche gerade selbst, ein Buch über all das zu schreiben, daher meine Zurückhaltung, darüber zu sprechen. Ich hatte also während des Krieges mehr Zeit in der Résistance verbracht als in der Schule und kam erst im Januar 1945 zurück nach Paris – ich hatte meine Mutter seit 1938 nicht gesehen …
Und komischerweise fing ich an, Philosophie zu studieren. Und trotz all dem, was passiert war: Deutschland war für uns Studenten das Land der Dichter und Denker geblieben, der großen Philosophen: Kant, Fichte, Hegel, Schopenhauer. 1947 fuhr ich also nach Deutschland, um mein Studium dort mit einer Arbeit über Leibniz abzuschließen; ich hätte das auch in Paris gekonnt, hatte aber Gründe, nach Deutschland zu gehen. Ich verbrachte ein Jahr an der Universität in Tübingen mit Michel Tournier. Für die Anekdotensammlung fällt nebenbei ab, dass wir oft zusammen ausritten …
Dann begann der Kalte Krieg, nicht plötzlich natürlich, sondern so nach und nach, und man schlug mir die Dozentur an der FU Berlin vor, wo ich kurz nach der Blockade eintraf. Ich blieb ein Jahr in Berlin und bin dann heimlich nach Ostdeutschland rüber. Ich fuhr heimlich in die DDR, weil die Russen mir kein Visum geben wollten. Ich habe nachts auf Plätzen, in Parks geschlafen. Ich habe wirklich viel riskiert. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die mich erwischt hätten. Ich hatte einige Adressen, ein Netzwerk von protestantischen Pfarrern, die zu zittern anfingen, wenn ich kam. Zurück in Frankreich habe ich eine Serie von 10 Artikeln geschrieben, die ich an Le Monde sandte, ohne irgendjemanden zu kennen. Drei Tage später haben sie mir geantwortet, dass sie meine Reportage unter dem Titel Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang publizieren wollten. Das gefiel mir gut, und also bin ich nach Israel gefahren mit dem Gedanken, dies zu wiederholen.
Die Wahrheit ist, dass ich ohne jüdische Kultur aufgewachsen bin, ohne jüdische Tradition, ohne jüdische Religion. Meine Familie stammt aus Osteuropa. Mein Vater ist am 14. Juli 1900 in Paris geboren, mein Großvater väterlicherseits wurde 1913 mit 39 Jahren »eingebürgert« – wie man so schön sagt. Am ersten Tag des Ersten Weltkriegs trafen Steine die Schaufenster seines Antiquitätenladens im XVIII. Arrondissement von Paris, weil der Name irgendwie Deutsch klang. Am selben Tag wurde er eingezogen, weil er gerade eingebürgert worden war. Er war 40 Jahre alt und wurde gemeinsam mit 20-jährigen eingezogen. So kämpfte er den gesamten Krieg in erster Frontlinie als Grenadier. Er wurde dreimal verwundet, erhielt diverse Kriegsauszeichnungen etc. Mein Vater meldete sich seinerseits mit 17 freiwillig und erlitt eine Senfgasvergiftung an der Somme. Man kann also sagen: Ich bin ein gebürtiger Franzose, ein Stammesfranzose, ein Franzose durch und durch.
Wie eben schon gesagt: Als ich nach Deutschland kam, stand ich dem Zionismus gleichgültig gegenüber, ich wusste von nichts, und als am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel ausgerufen wurde, kümmerte ich mich um meine deutschen Studenten. Ich hatte überhaupt nicht vor, einen Film über Israel zu machen. Ich bin nach Israel gefahren, im Gepäck die Vergangenheit, die ich gerade skizziert habe, und das Buch von Jean-Paul Sartre. Was sind diese Juden, die keine Juden sind? Ich wusste nicht, dass ich kein Jude war. In Israel habe ich die jüdische Besonderheit entdeckt, habe ich entdeckt, dass es ein echtes jüdisches Volk gibt, eine Kultur, eine gemeinsame Tradition dieser Menschen aus allen Teilen der Welt. Meine Großeltern waren von dort. So hatte ich plötzlich das Gefühl, als sei ich nur zufällig Franzose geworden und als hätte es mich genauso gut dort oder woandershin verschlagen können. All das gab mir viele Rätsel auf. Der Idealismus der Israelis hat mich sehr bewegt, ihre Selbstverleugnung und Opferbereitschaft.
Als ich dort war, starb man vor Hunger; das Land bestand erst seit vier Jahren, es waren die mageren Jahre. Ich habe die ganze Zeit Hunger gelitten, mehr als während der Besatzung in Frankreich. Ich lernte bei der Überfahrt Leute kennen, die mich zu sich einluden. Ich nahm die Einladung an und blieb drei Monate bei diesen armen Leuten ohne Geld, aber von bemerkenswerter Großzügigkeit. All das bewegte mich sehr, verstrickte mich, und mir wurde klar, dass ich die Reportage nicht würde schreiben können, weil das zu persönliche und zu intime Bereiche berührte. In gewisser Weise ging das die potentiellen Leser meiner Reportage nichts an, und als ich nach Frankreich zurückkam, sprach ich darüber mit Sartre und Simone de Beauvoir, die ich seit kurzem kannte. Sartre sagte zu mir, dass er mich gut verstehen könne und fügte hinzu: »Dann schreiben Sie ein Buch!« Ich hielt das für eine sehr gute Idee, schrieb an die hundert Seiten, die gut waren, und hörte dann auf. Ich war beim Schreiben des Buches auf dieselben Probleme gestoßen und hatte wohl nicht die innere Kraft, die Dinge zu sagen, mich in gewisser Weise selbst zu erforschen – so gab ich es auf. Es gab also eine nicht realisierte Reportage und ein gescheitertes Buchvorhaben. Zwanzig Jahre später wurde daraus ein Film. Die Frage ist also nicht, wie ich von der Schrift zum Kino gekommen bin, sondern warum es das Kino war, das es mir mit zwanzigjähriger Verspätung ermöglicht hat, all das zu sagen, was ich während dieser ersten großen Reise empfunden hatte. Ich hatte Zeit gehabt zu reifen und wusste nun, was ich machen wollte.
Einige Szenen in WARUM ISRAEL sind ganz und gar inszeniert. Dieser Film hat einen roten Faden, nämlich: Was ist das: Normalität? Was ist das: Ein Land, in dem jeder Jude ist? Das ist das Entscheidende vom Standpunkt eines Juden aus der Diaspora – und das waren sie ja letztlich alle. Der ganze Film spielt damit, mit der Normalität und der A-Normalität. Ich zeige in WARUM ISRAEL, dass die Normalität das eigentlich Anormale ist, und dabei ist WARUM ISRAEL ebenso sehr ein Film über mich wie über Israel. Wenn ich etwa die Polizistin frage, wie es sich anfühlt, Juden zu verhaften, dann versteht sie meineFrage erst gar nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, was ich meine, verstehe mich nicht. Darauf ich: »Ist das nicht erstaunlich für Sie?« Sie verneint und sagt, sie habe noch nie einen Araber verhaftet, immer nur Juden. Ebenso der Polizeihauptkommissar, der in Auschwitz gewesen ist und der sagt, dass man in einem jüdischen Staat mit einer jüdischen Armee keine nicht-jüdischen Polizisten einsetzen könne. Genau darum dreht sich der ganze Film. Nehmen wir das Gefängnis: Dort findet zum Beispiel eine Szene statt, die ich spielen lasse und in der diese Sache mit der Normalität/Anormalität zum Vorschein kommt. Um das zeigen zu können, muss man inszenieren, spielen lassen.
Bei meiner ersten Israel-Reise kam mir all das schon unerhört, unglaublich vor. Zum Beispiel: Auf dem Schiff, das ich in Marseille bestiegen hatte, teilte ich die Kabine mit einem großgewachsenen Rabbi aus Marrakesch, glaube ich, jedenfalls war er Marokkaner, der kein Wort Französisch sprach, nur Arabisch und Hebräisch. Ich für meinen Teil sprach weder das eine noch das andere. Er war ein hochgeschossener Typ mit schönen blauen Augen, dünn, mit dicken Socken im Hochsommer. Fragte mich auf Hebräisch, ob ich Jude sei, das Wort kannte ich und so bejahte ich, worauf er mir widersprach. In seinen Augen war ich kein Jude, denn ich beachtete nicht die Gebote. Auch kam am ersten Morgen eine Israeli in meine Kabine auf diesem israelischen Schiff, um zu putzen. Und ich habe es nicht ertragen können, sie vor mir auf allen Vieren kriechen zu sehen, um die Kabine zu putzen. Ich habe sie aufgerichtet, sie blickte mich an und hielt mich wohl für verrückt. Sie hatte recht. Und so kam es, dass die Kabine nicht mehr gereinigt wurde …
Um noch einmal auf die gespielten Szenen zurückzukommen, von denen gab es mehrere, aber eine ist besonders interessant, und so werde ich erzählen, wie ich sie gedreht habe: die Szene mit den amerikanischen Juden im Supermarkt. Da sind sie also, kommen ins Schwärmen bei all den jüdischen Produkten … Ihr zweites Auftauchen im Film zeigt übrigens in Wirklichkeit unser erstes Zusammentreffen. Da fragte ich mich, wie sich das darstellen lassen könnte. Dieses Erstaunen
vor der Normalität war so unglaublich, diese Blendung: die Anormalität. Ich fragte sie also nach ihrer Reiseroute und erfuhr, dass sie sich am Tag X in Jerusalem einfinden würden. Ich richtete es so ein, dass ich auch da sein konnte; ich habe ihr Hotel aufgesucht und habe sie auch gesehen, bin ihnen sogar gefolgt. Sie waren in einem Bus, den ich anhielt. Ich bin eingestiegen und habe ihnen nach einer kurzen Begrüßung erklärt, dass ich einen Film über Israel drehte, über das, was passiert war. Ich fragte sie, ob es ihr erstes Mal in Israel sei, was ich ja bereits wusste seit unserem letzten Treffen, und erzählte ihnen, wie es mir beim ersten Mal ergangen war. Danach fragte ich sie, ob sie es genauso empfunden hätten. Genau so. Also sagte ich: »Sehr gut, drehen wir sofort, kommen Sie mit!« Ich brachte sie in einen großen Supermarkt in Jerusalem, gab ihnen einige Anweisungen: »Los, seid erstaunt!« Sie verstanden sofort, was ich sagen und tun wollte, sie fühlten und lebten es ja selbst und haben es folglich auch wunderbar gespielt. Diese Szene ist wirklich toll und sehr komisch. Man lacht viel, und sie, die Amerikaner, lachten besonders, als sie sie sahen. Das also, das ist durchweg eine gespielte Szene.
Beim Wiedersehen der beiden russischen Brüder hingegen war das überhaupt nicht der Fall. Jeden Tag kamen Russen an, und nach einigen Tagen oder Wochen hatten sie nur den einen Wunsch: Israel wieder zu verlassen, obwohl andere es, wenn auch mit ernsten Schwierigkeiten, schafften, den schrecklichen Schock des Neuen zu überwinden, sprich das Land zu wechseln, die Sprache, alles … Das war schon immer so, zu allen Zeiten und durch alle Schichten von Immigranten hindurch.
Ich hatte mich umfassend vorbereitet. Ich war mehrere Nächte hintereinander auf den Flughafen gegangen, um zu sehen, wie alles vor sich ging, und als ich mich entschied zu drehen, kamen Leute an. Also fing ich an, diesen Mann mit dem schönen Gesicht zu befragen, der seinen Bruder seit 38 Jahren nicht gesehen hatte. Er sagt mir, sein Bruder sei unten, aber man ließe ihn nicht zu ihm durch. Ich also: »Ich gehe ihn holen!« und bin los. Ich habe ihn gefunden und habe die beiden Polizisten, die mich begleiteten, gebeten, ihn hereinzulassen. Was dann passierte, ist sehr schön. Der Bruder, der gerade aus Russland angekommen ist, sieht mich an, sieht die Kamera an, bevor er die Arme ausbreitet, um zu wissen, ob wir bereit sind. So eine unglaubliche Höflichkeit. Als ich bejahe, fallen sich die Brüder in die Arme und weinen. Man kann also höflich sein, ohne dass das Gefühl darunter leidet. Das ist wirklich eine große Lektion. Oder das junge russische Paar, das ich begleite und das nach einem Monat wieder abreisen will. Ich hatte mir bei ihrer Ankunft gesagt, dass ich sie nach einem Monat aufsuchen würde. Dabei hatte ich mir geschworen, nichts zu verfälschen. Ginge es ihnen gut, würde ich es zeigen, ginge es ihnen nicht gut, ebenso, und ich habe es gezeigt. Für einen Ausgleich sorgten die Szenen mit den Juden aus Dimona. […]
Das also sind die Quellen von WARUM ISRAEL, aber der Film zeigt noch viel mehr, die jüdische Solidarität, die Solidarität der Juden aus der ganzen Welt diesem Land gegenüber. Der Sänger, der den Film eröffnet mit seinem Spartakisten-Lied, ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend; er steht auch für die Nostalgie nach Europa, die viele verspürten, denn Israel ist ein hartes Land. Nach diesem Film wollten viele aufbrechen in den Hebräischen Staat. In Frankreich und anderswo sang die Kritik regelrechte Loblieder. Juden wie Nicht-Juden waren verrückt nach dem Film. In den Vereinigten Staaten ist der Film aber zum Beispiel nicht wirklich gesehen worden. Er sollte beim Festival von New York am 7. Oktober 1973 laufen. Er lief auch tatsächlich im Lincoln Center, aber es war eben zugleich der erste Tag des Jom-Kippur-Kriegs, nach der ägyptischen Offensive gegen Israel. Also wollte meine Frau, die ich in Israel kennen gelernt hatte, unverzüglich abreisen. In Paris fand die Premiere am 11. Oktober statt, es folgten einige andere Städte, dann brach ich nach Israel auf. Es war wirklich unerträglich, nichts tun zu können. Nach Kriegsende flog ich erneut in die USA, damit der Film dort gespielt würde. Die Kritiken waren mehr als gut, ich denke da an Variety, den Hollywood Reporter, die New York Times … – kurzum: an alle, die bei der Uraufführung im Lincoln Center dabei gewesen waren.
Ein junges Mädchen hatte mich da übrigens während der Pressekonferenz gefragt: »Aber was ist Ihre Heimat, Herr Lanzmann? Frankreich oder Israel?« Ich erinnere mich geantwortet zu haben: »Mein Film ist meine Heimat.« WARUM ISRAEL fand jedenfalls keinen Verleih in den USA. Er lief in Frankreich, in Deutschland und in wenigen anderen Ländern. Bald darauf nahm mich die Arbeit an SHOAH ganz in Anspruch, und ich habe den Film erst vor einigen Jahren für mich wiederentdeckt und wirklich nicht verstanden, warum er nicht mehr gezeigt wird. Es ist ein toller Film. Die Vorführung im Rahmen von Cannes Classics 2007 und die DVD-Veröffentlichungen haben nun neue Möglichkeiten eröffnet. Und tatsächlich, es ist wirklich ein Werk, das nicht gealtert ist, auch wenn sich die Dinge verändert haben. Man sollte den Film nicht ansehen und dabei das Israel von damals mit dem von heute vergleichen. Und doch sind es dieselben Leute, in ihrem Wesen haben sie sich nicht verändert. […]
Meine Filme haben letztlich alle dieselbe Quelle: die ›Shoah‹, die auch in WARUM ISRAEL präsent ist. Und zwar explizit am Anfang und am Ende des Films: Die Aufzählung der Namen, meines Namens, meines Familiennamens, schreibt sich in die ›Shoah‹ ein. Mir war nicht bewusst, eine so große Familie zu haben; es sind keine Verwandten, aber Leute meines Volks, das ist dasselbe. Das verbindet die Filme der Trilogie SHOAH, POURQUOI ISRAEL, TSAHAL. Diese drei Filme hängen zusammen, sind zutiefst ineinander verwoben. […]
[Postskriptum:] Ich habe noch nicht über die politischen Gründe für diesen Film gesprochen. Ich habe mich sehr viel mit den antikolonialistischen Kämpfen beschäftigt. Ich habe das Manifest der 121 unterschrieben [das französische Soldaten zur Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg aufrief. Anm. d. Ü.], ich bin einer der 10 Angeklagten. Ich leite diese Zeitschrift Temps Modernes, in der ich auch selbst vieles geschrieben habe, das immer wieder der Zensur zum Opfer gefallen ist. Ich habe mich sehr intensiv mit der algerischen Frage beschäftigt und war immer der Ansicht, dass man sehr wohl zugleich Verfechter eines unabhängigen Algeriens und des Staates Israels sein könne. Dann wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Ich habe die Algerier kennen gelernt, etwa den jetzigen Präsidenten Herrn Bouteflika; den lernte ich kennen als jungen Kapitän mit blauen Augen, der mir von der Schönheit eines Hinterhalts in der Wüste vorschwärmte und mir zugleich sagte, dass Algerien nach Erreichen der Unabhängigkeit Missionen nach Israel schicken sollte: »Weil wir viel von den Israelis lernen können«, sagte er mir. »In welchen Bereichen?« fragte ich. »Bewässerung, Entwaldung, das Kibbuz-System.« Ich habe Briefe von Ben Bella, der mir aus dem Gefängnis schrieb und mich »Mein Bruder« nannte. Ich war in Rabat, als sie nach Erklärung der Unabhängigkeit an den Truppen der Nationalen Befreiungsarmee vorbeimarschierten, zu denen Ben Bella sagte: »Ihr seid unser Blut.« Und kurz danach befreite er seinerseits 100.000 Männer, um Palästina befreien zu gehen. Es war vorbei. Dann war da der 6-Tage-Krieg, den die Israelis gewannen und nach dem ein Großteil der antikolonialistischen Linken, ein Großteil meiner Kampfgenossen, anfing, auf Israel herumzuhacken mit dieser hundsgemeinen Pauschalisierung: Das sind Sieger, das sind Nazis, mit der daraus folgenden neuen Opferrolle der Araber. Es war unglaublich. Ich habe also diesen Film gemacht, um ihnen zu antworten, ihnen zu sagen, dass Israel kein Volk von Mördern, sondern ein Volk von Flüchtlingen ist, ein Volk von alten Frauen. Es gibt also zwei große Erklärungen für diesen Film: einerseits die Vergangenheit, dieses gescheiterte Buchprojekt und die unvollendete Reportage, andererseits diese genuin politischen Gründe.
Zahlreiche Ehrungen
Lanzmann erhielt u. a. die Médaille de la Résistance, ist Kommandeur des Ordre National du Mérite, Kommandeur der Légion d’Honneur (Ehrenlegion) – die ranghöchste Auszeichnung in Frankreich für militärische und zivile Verdienste. Ehrendoktorate (Philosophie) der Hebräischen Universität Jerusalem, der Universität von Amsterdam, der Adelphi University, New York, und der European Graduate School in Saas-Fee, Schweiz. Seit 1998 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Film- und Medienkunst. Claude Lanzmann starb am 5. Juli 2018.
Claude Lanzmann
Ende der 1960er Jahre erste Film- und Fernseharbeiten. 1968/69 Fernsehreportage über den ›Abnutzungskrieg‹. Die Filmarbeit wird Lanzmanns intensive Auseinandersetzung mit Israel über die Jahre stetig vertiefen. Sein Kinofilmdebüt WARUM ISRAEL (1973), mit dem er sich gänzlich vom Fernsehen löst und zu einer eigenen Filmsprache findet, ist eine fragend-heitere Annäherung an die noch junge Nation. Nach dem Erfolg seines Erstlings bittet das israelische Außenministerium Lanzmann um einen Film über die Judenvernichtung, ohne zu wissen, worauf es sich einlässt. Die ursprüngliche Auftragsarbeit wird jeden vorgesehenen Rahmen sprengen: Im Sommer 1973 Beginn der Arbeit an SHOAH, den er 1985 – also fast 12 Jahre später – fertig stellt. Biografisch ein Abenteuer mit offenem Ausgang, cineastisch und historisch ein Großereignis, das die Grenzen des Dokumentarfilms radikal verschiebt und weltweit größte Anerkennung findet. Nicht nur für die Washington Post stellt die 9 ½ stündige Spurensuche mit Opfern, Tätern und Statisten der Judenvernichtung im Nationalsozialismus »Das Filmereignis des Jahrhunderts!« dar. Das ist nicht mehr der gängige Versuch, mittels Archivmaterial die historischen Ereignisse zu rekonstruieren und faktisch zu beglaubigen, noch geht es darum, die Ermordung des europäischen Judentums à la Spielberg fiktional in den Blick zu bringen. Lanzmann findet mit seiner Ausnahme-Dokumentation vielmehr zu einer ganz eigenen Form filmischen Gedenkens, indem er alles auf die Vergegenwärtigung in den Körpern und Stimmen seiner Zeugen setzt und auf die stumme Untröstlichkeit der Orte der Vernichtung, über die inzwischen Gras gewachsen ist.
Nach WARUM ISRAEL und SHOAH stellt er 1994 mit TSAHAL seinen Film über die israelischen Streitkräfte fertig, den letzten Teil seiner jüdischen Trilogie. Ein Abschluss, und doch kein Ende: Das Mittelstück der Trilogie, sein Hauptwerk SHOAH, erweist sich fortan buchstäblich als Lebenswerk – »als unerschöpfliche Quelle«. Durch die schiere Menge an gedrehtem Material mit den unterschiedlichsten Zeugen nämlich hat dieses Jahrhundert-Filmprojekt, das so folgenreich auf die Modi der dokumentarischen Absicherung durch Archivdokumente verzichtet, gleichwohl selbst wichtiges Archivmaterial produziert: rund 200 Stunden nicht verwendete Film-Interviews mit zahlreichen inzwischen verstorbenen Zeugen – einige davon bekannt aus SHOAH (i. e. Outtakes der verarbeiteten Gespräche), aber auch eine Vielzahl weiterer Interviews, die während der Konstruktion des Films ganz aufgegeben wurden und die nun im United States Holocaust Memorial Museum verwahrt und öffentlich zugänglich gemacht werden.
Über eine Dekade ließ der Regisseur nach der Premiere von SHOAH verstreichen, bevor er sich daran machte, aus dieser Flut an Rohmaterial behutsam weitere Nebenarme auszuwählen und neue Filme zu schaffen, um das Gedrehte erneut zum Sprechen zu bringen. Das reine Dokument dient ihm dabei stets nur als Zündung für neue filmische Konstruktionen. Diesmal nicht als kunstvoll ineinander verwobener Chor von Stimmen: Er wählt sich jeweils einen Kronzeugen, bereist die Orte erneut und beleuchtet ein Thema, das den strengen Rahmen von SHOAH – dieser heillosen Fürsprache für die Toten – gesprengt hätte: das Versagen der Hilfsorganisation (EIN LEBENDER GEHT VORBEI, 1997), der Heldenmut des jüdischen Aufstands (SOBIBOR, 14. OKTOBER, 16 UHR, 2001), das ungläubige Wissen der ›freien Welt‹ (DER KARSKI-BERICHT, 2010), die unlösbaren moralischen Konflikte der ›Judenältesten‹ (DER LETZTE DER UNGERECHTEN, 2013) oder vier gänzlich unterschiedliche Leidenswege überlebender Frauen (VIER SCHWESTERN, 2017). Es sind dies ebenso eigenständige Werke der Filmkunst wie Fortschreibungen des Hauptwerks.
»Dieser Film ist viel eher eine Antwort als eine Frage. Es sind die zwei letzten Worte eines Satzes wie: ›Hier zeige ich euch, warum Israel‹. / ›Darum Israel‹ wäre vielleicht passender gewesen, aber ihm wäre jede Poesie abgegangen. / Der Titel stellt die Existenz Israels nicht in Frage. Mit einem Fragezeichen hätte die Antwort womöglich negativ ausfallen können, was nicht in Frage kam. Das Fehlen eines Fragezeichens ist wesentlich.«
(Claude Lanzmann)
Die Filme von Claude Lanzmann
1973: WARUM ISRAEL | POUR QUOI ISRAËL (Sonderausgabe)
»Ich war 38 Jahre alt, als ich WARUM ISRAEL drehte, er war mein erster Film. WARUM ISRAEL hat mich zum Regisseur gemacht.« Claude Lanzmann
2 DVDs, Farbe, 195 Min. + Extras, Bestnr. 8036
1985: SHOAH
Claude Lanzmann legte mit SHOAH eine der radikalsten und umfassendsten Filmarbeiten über die Vernichtung des europäischen Judentums im Nationalsozialismus vor. 12 Jahre Dreharbeiten, 350 Stunden Material, 9 ½ Stunden Film gegen das Vergessen.
»Der zweite Film, den ich drehte, war SHOAH – und der kostete mich zwölf Jahre meines Lebens. Es sind 350 Stunden Material, in sieben Sprachen, es war sehr schwierig, den Film zu schneiden. Wir haben fünf Jahre mit dem Schnitt verbracht …« Claude Lanzmann
»Eine Totenklage aus mehreren, ineinanderfließenden Stimmen … Ein wahres Meisterwerk.« Simone de Beauvoir
Auszeichnungen weltweit (Auswahl)
1985 The New York Film Critics Circle (NYFCC) Awards, Bester Dokumentarfilm • Los Angeles Film Critics Association (LAFCA) Awards, Besondere Erwähnung • Prix des Arts, des Lettres et des Sciences de la Fondation du Judaïsme français • Prix de la Ligue Internationale Contre le Racisme et l’Antisémitisme • 1986 National Society of Film Critics (NFSC) Awards, Bester Dokumentarfilm • The Boston Society of Film Critics (BSFC), Bester Dokumentar-film • Filmpreis Rotterdam • British Academy of Film and Television Arts (BAFTA) Awards, Flaherty Dokumentarfilmpreis • Caligari Filmpreis der Berlinale • FIPRESCI-Preis der Berlinale (Forum) • Preis der Internationalen Katholischen Organisation • The Torch of Liberty Award • Christopher Award • Preis des Simon Wiesenthal Centers • Preis der International Documentary Association (IDA) • Ehren-César • 1987 The Peabody Award • Grimme-Preis in Gold • Broadcasting Press Guild Television Award • Kansas City Film Critics Circle (KCFCC) Award, Bester Dokumentarfilm • 1987/88 Royal Television Society Programme Award
Studienausgabe, 4 DVDs, Farbe, 566 Min., mit einem umfangreichen Booklet als PDF, Bestnr. 985
2 Blu-ray, Farbe, 566 Min., Bestnr. 8503
1994: TSAHAL
Der letzte und kontroverseste Teil von Lanzmanns jüdischer Trilogie: ein Film über Israel und die israelische Armee (Tsava Haganah LeIsrael = Armee zur Verteidigung Israels).
»Jitzchak Rabin, damals Verteidigungsminister, fragte mich 1987, nachdem er SHOAH gesehen hatte, ob ich mir vorstellen könne, einen Film über den Unabhängigkeitskrieg zu drehen. Ich dachte nach; einige Tage später antwortete ich: ›Nein‹. … Im Gegenzug schlug ich Rabin einen Film über die Wiederaneignung der Kraft und Gewalt durch die Juden in Israel vor. Er willigte ein.« Claude Lanzmann
2 DVDs im Digipack, Farbe, 316 Min. + Bonus, mit Booklet, Bestnr. 963
1997 / 2001: SOBIBOR, 14. OKTOBER 1943, 16 UHR / EIN LEBENDER GEHT VORBEI
Wie verlief der einzige jemals gelungene Aufstand in einem Vernichtungslager der Nationalsozialisten? Und: Was hatte ein Delegierter vom Internationalen Roten Kreuz von seinem Besuch in Theresienstadt zu berichten? Basierend auf unveröffentlichten Interviews, die Lanzmann 1979 während der Dreharbeiten zu SHOAH aufgezeichnet hatte, entstanden Jahre später diese zwei eigenständigen Dokumentarfilm-Meilensteine.
DVD, Farbe, 95 + 65 Min., Bestnr. 524
2010: DER KARSKI-BERICHT
Das legendäre Interview mit dem Kurier des polnischen Widerstands, der Roosevelt persönlich von der Vernichtung der Juden Bericht erstattete.
DVD im Digipack, Farbe, 49 Min., Booklet, Bestnr. 387
2013: DER LETZTE DER UNGERECHTEN
Für SHOAH filmte Claude Lanzmann 1975 in Rom mit Benjamin Murmelstein, dem einzigen überlebenden „Judenältesten“. Das Konzept von SHOAH hätte das vielstündige Interview gesprengt. Mit 87 Jahren inszeniert Lanzmann diese Gespräche über die ambivalente Rolle des hochrangigen Funktionärs mit neuen Aufnahmen aus Wien, Polen, Israel und dem „Vorzeigeghetto“ Theresienstadt. „Ein einzigartiges Erste-Hand-Dokument über Zwänge und Spielräume im Holocaust und unlösbare moralische Konflikte, die aber gelöst werden mussten.“ DIE WELT
DVD, Farbe, 210 Min., Bestnr. 4018
2017: VIER SCHWESTERN
Aus nicht für sein epochales Werks SHOAH verwendetem Filmmaterial schuf Claude Lanzmann den vorliegenden Dokumentarfilm: Vier Frauen, die den Holocaust überlebten, erzählen darin ihre bedrückende Leidensgeschichte in den Konzentrationslagern der Nazis: Ruth Elias, Paula Biren, Ada Lichtman und Hanna Marton. Vier eindrückliche und schockierende Zeugnisse über die Barbarei des Nationalsozialismus.
DVD 1: Der Hippokratische Eid, Zum lustigen Floh
DVD 2: Baluty, Arche Noah
2 DVD, 264 Minuten, Farbe, Bestnr. 2007
SHOAH FORTSCHREIBUNGEN
4 Filme von Claude Lanzmann
EIN LEBENDER GEHT VORBEI – Was hatte ein Delegierter vom Internationalen Roten Kreuz von seinem Besuch in Theresienstadt zu berichten? [65 Min.]
SOBIBOR, 14. OKTOBER 1943, 16 UHR – Wie verlief der gelungene Aufstand in einem Vernichtungslager der Nationalsozialisten? [95 Min.]
DER KARSKI-BERICHT – Der legendäre Kurier des polnischen Widerstands, der Roosevelt persönlich von der Vernichtung der Juden Bericht erstattete. [49 Min.]
DER LETZTE DER UNGERECHTEN – Das ausführliche Gespräch mit Benjamin Murmelstein, der einzige »Judenälteste«, der überlebte. [210 Min.]
Mit ausführlichem Begleitmaterial im PDF-Teil. 2 DVD, Farbe, 409 Min., Bestnr. 2004
SHOAH UND DIE FOLGEFILME
Das Meisterwerk und seine vier Fortschreibungen
Claude Lanzmann legte mit SHOAH eine der radikalsten und umfassendsten Filmarbeiten über die Vernichtung des europäischen Judentums im Nationalsozialismus vor. 12 Jahre Dreharbeiten, 350 Stunden Material, 9 ½ Stunden Film gegen das Vergessen.
Nach SHOAH entstanden – basierend auf unveröffentlichten Interviews, die das Konzept von SHOAH gesprengt hätten – vier eigenständigen Fortschreibungen: EIN LEBENDER GEHT VORBEI / SOBIBOR, 14. OKTOBER 1943, 16 UHR / DER KARSKI-BERICHT / DER LETZTE DER UNGERECHTEN.
6 DVD, 985 Min., Farbe, mit ausführlichem Booklet und PDF-Materialien, Bestnr. 2000
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