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Elfriede Jelinek

Stadt ohne alles

Was die Macht sagt oder tut, das stimmt von ihrer Warte aus, ist unbedingt wahr, denn diese Warte, von der aus man etwas tut oder auch nur beobachtet, steht ja auch auf dem Gebiet der Macht. Die Machtlosen zeigen mit dem Finger und sagen, nein, flüstern, alle Aussagen der Macht, alle ihre Ausformungen und Erscheinungsformen, seien nur bedingt wahr, also eigentlich unwahr. So treten sie gegeneinander an. Hätten die Machtlosen etwas zu sagen, so würden einander zwei Machtpositionen gegenüberstehen, eine jede im Besitz der unbedingten Wahrheit, und niemand würde lügen. Allerdings braucht jede Seite für die Wahrheit in der Volksvertretung, die alle vertritt und bestimmt, wer jeweils getreten werden soll, eine Zweidrittelmehrheit. Die ist schwer zu kriegen, da kriegt man die Wahrheit ja noch leichter. Wenn aber alles wahr ist, lügen alle. Für die Macht kann etwas, das gesagt wird, auch das Falsche sein, denn wäre das Falsche das, worauf die Macht sich gründet, wäre auch das Falsche richtig, und dieses Falsche hätte es nicht nötig, sich selbst abzuschätzen und zu beurteilen. Diese Aufgabe fällt an das vertretene und das unvertretene Volk, das keineswegs selbst fallen, sondern aufsteigen und womöglich freigewordene Plätze mit Beschlag nehmen will, notfalls halt mit Schlägen. Bier und Wein sind reichlich vorhanden und dienen der Entscheidungsfindung. Beide werden hier immer wieder aufgetragen und haben den Auftrag, die Menschen von sich selbst abzulenken.

Wie kann noch Komik über Juden gelingen nach dem Wissen von der totalen Vernichtung der europäischen Judenheit? Die Komik entsteht, genau, sie entsteht aus dem Nichtwissen, dem Noch-Nicht-Wissen. Wir können nichts dafür. Wenn wir das gewußt hätten! Aus der Differenz zwischen Wissen und Wissen vielleicht, dort könnte etwas auftauchen, wir sehen noch nicht recht, was, dieser Film weiß mehr als er weiß, weil er nicht wissen kann, was er weiß. Er fährt zweigleisig neben sich selbst her. Wir wissen mehr, ich sage nicht: Wir wissen heute noch mehr. Weil wir es schon immer gewußt haben konnten. Wenn es ein Film wußte, Mitte der zwanziger Jahre, dann war das mehr, als er wissen konnte, weil er es in seinem Ungewußten eben schon wußte. Und danach verloren die Menschen kollektiv das Gewußtsein. Und das Wissen, das wir inzwischen haben (und, ja, immer gehabt haben, auch wenn es nicht immer unter uns geweilt hat, sondern manchmal in der Sommerfrische, zur Erholung), nützt uns heute nichts, wenn wir buchstäblich drüberfahren. Auf dem einen Gleis steht noch der Zug, der Fliegende-Holländer-Zug, der Menschen aufsammelt, ausspuckt, andre aufnimmt, ein Zug, der selbst nicht weiß, wohin er fährt, auf seinem Gleis rast er vorbei, unter dem Viadukt hindurch, aber er nimmt kein Ende, also könnte er genausogut stehen, jeder Waggon, den man sieht, könnte stehen und gleichzeitig vorübergefahren sein, der nächste wäre genau gleich, nur die Gesichter hinter den Fenstern würden wechseln, und das Vorüber wäre dann das, was gleichzeitig unaufhörlich stattfände. So wie wir uns auch im Spiegel anschauen und nicht wissen, was wir sind (ich sage nicht: wer). Und sogar die Gleise sehen so harmlos aus, eins für den Abtransport, eins für die Rückreise, die Rückreise haben sie sich später dann ganz erspart, jetzt ist sie noch die Möglichkeit, fast elegant laufen diese Gleise dahin, wie in dem berühmten Heinegedicht vom Sonnenuntergang. Es ist ein altes Stück. Dort vorne geht sie unter und kommt von hinten zurück. So einfach geht das. Einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht schwer.

Der teils liebenswürdige, auch liebenswerte, streckenweise herzzerreißende (einer der fortgetriebenen Juden bückt sich, um etwas Heimaterde in seinem Schnupftuch zu bewahren), dann doch wieder sehr komische Film, vor allem durch das Spiel Hans Mosers in seiner zweiten Filmrolle — na sowas, hier haben wir ja die fehlende Stimme des Zweidrittels!, die Leerstelle, an der alles hängt, an einem einzigen, und das ist ausgerechnet der! Ausgerechnet! Ein Depp! Ein Komiker! Wir haben hin- und hergerechnet, es stimmt!, der ist die Zunge, die die Waage uns herausstreckt. Grade versucht er, mit einer Zigarre das Haustor aufzusperren, mein lieber Schwan!, mein lieber Jude! — zeigt streckenweise genau diese Komik, die gleichzeitig dazu dient, sich selbst immer wieder zu unterlaufen, und zwar durch das Aufklaffen einer Differenz, in der, soviel ist klar, die Komik niemals die Macht übernehmen könnte, das wäre einfach unvorstellbar, weil sie keinen Gegner mehr hat, an dem sie sich reiben kann; sie versucht es aber trotzdem immer wieder, als schlechter Witz, mit den tauglichsten Mitteln aus Dirndl und Lederzierhose, zwischen Baum und Borke, wo sie jetzt alle miteinander feststecken. Doch da kommen wir jetzt wieder raus! Ja, sieh an, das Land kommt in die Stadt, in Alpenkleid und Touristenanzug!, als Gast bei sich selbst, wo man bekanntlich am besten ruht: in sich selbst. Unzählige Komödien ernähren sich davon (umso komischer, wenn derjenige, der das Sagen hat, aber nichts zu sagen weiß außer Blödsinn, aufs hohe Roß kommt. Da wird die Macht dann gefährlich, diesmal noch für unsere Zwerchfelle, wenn es uns buchstäblich zerreißt vor Lachen). Aber wir können auch anders, verehrte Anwesende! Sie kann auch anders, diese Komik des Sieges einer angemaßten Macht, die dann, wenn sie endlich rauf aufs Roß gekommen ist, kein Maß mehr kennt, höchstens den Maßkrug, und so zeigt sie sich auch, diesmal noch von ihrer vermeintlich besten Seite, die wird immer gezeigt, wenn die Macht sich der ihr innewohnenden Komik nicht bewußt ist und sich für naturgewollt und Naturgewalt hält, ernst und schwer gehen wir dann der Auflösung entgegen, das Räsel um uns haben wir vergessen, und da wird dann gleichzeitig gezeigt: Wir können auch anders, und wir wollen jetzt auch anders, Juden können auch wertvolle Geschöpfe sein, schön wie Rosenkäfer, aber besser, sie sind das woanders, wo man sie nicht sehen muß, wie sie Schaden anrichten. Denen werden wir es jetzt zeigen! Entweder wir oder die Juden. Da müssen wir nicht lange nachdenken. Das Lachen selbst ist dann fast immer ambivalent. Kafka berichtet in einem Brief an seine Schwester Elli (er nennt es „ein Liebesabenteuer“), wie eine Schar Mädchen aus einer Schule im Botanischen Garten, bei Sonnenschein vorbeigeht und eine besonders hübsche, lange, blonde Jungenhafte — so beschreibt sie Kafka — lächelt ihn kokett an und ruft ihm etwas zu. Kafka lächelt überfreundlich zurück, wie man es in einer solchen Situation eben tut, das Mädchen blickt sich noch mehrmals nach ihm um, und erst später wird ihm bewußt, was das Mädchen eigentlich gesagt hat: „Jud“ hat es zu ihm gesagt.

Die Karikaturen von reichen, prassenden Geldjuden wiederum, die vorgeführt werden, wie sie grade wie nebenbei die Währung manipulieren und ihr Wirtsvolk in den Bankrott und dann wohin treiben?, natürlich wieder zum Wirten! Was sie mit ihrem Geld und ihren internationalen Verbindungen ja jederzeit können und auch gern betreiben, umsonst wären die nie so reich geworden, das haben wir immer schon gewußt. Geld ist ihr Produkt und ihre Nahrung, so soll man sie hier sehen. Die komischen Verzerrungen entstehen dann aus der Differenz zu sich selbst, man wird betrachtet, wie man sich selbst nie betrachten würde, einer Differenz, die noch keine zwischen Leben und Vernichtung war, weil man sich nicht einmal vorstellen konnte, etwas nicht wissen zu können. Also wußte man alles. Für die Macht ist diese Differenz unwesentlich, für den Machtlosen ist sie eine Ausdrucksform, er muß ja kennen, was andre nicht zu kennen brauchen. Und die Macht wird bald ein andrer sein und haben. Der Krüppel darf sich selbst so nennen, wir dürfen es nicht. Man sieht also einen Versuch, der auf die Nützlichkeit von Menschen besteht, die den Menschen jederzeit wieder abgesprochen werden kann, sogar wider besseres Wissen — darüber urteilt immer nur das Herrenvolk, ob auch jeder brav an seinem Platz steht, ob im Damenmodegeschäft oder in der Bank —, eine Nützlichkeit, die in dem Moment verfällt, da die Mehrheit sich dagegen entscheidet, auch gegen den Nutzen selbst, denn die Juden wollten ja nützlich sein, sich nützlich machen, und doch waren sie schon verurteilt, auch wenn der Film das nur ahnen lassen kann, da er der Macht mit Eleganz und Schönheit (die Macht weiß gar nicht, was das ist, denn sie braucht diese Dinge nicht, was sie braucht, ist Menschenfleisch, was andres frißt sie nicht, egal, ob das Fleisch mit einem Seidenkleid, einem Pelzmantel oder einer Lederhose und Gamsbarthut bekleidet um den Wirtshaustisch herumsitzt oder in der Stehweinhalle herumsteht. Am Ende kommen alle dran. Und sogar Bekleidung bekennt in diesem Film mehr Wahrheit als das, was die Menschen jeweils sagen. Kafkas Milena wurde von ihrem Vater eine Trachtenjacke ins KZ geschickt, damit sie es warm haben sollte. Wenn schon Kleidung nicht mehr unschuldig ist, wer oder was ist es dann?) freundlich zu begegnen und gleichzeitig zu widersprechen versucht, denn diese Dinge brauchen wir jetzt nicht mehr. Wir haben andere Dinge. Entweder wir müssen zugrunde gehen, oder die Juden müssen verschwinden. Retten wir uns und unsre Kinder vor ihnen, noch die Enkel werden es uns danken! Dafür müssen wir vielleicht vorübergehend Opfer bringen, in manchen Bereichen, doch in unsrer großen Güte (und um die Nachbarn nicht gegen uns aufzubringen) werden wir das zu milden Bedingungen tun. Es folgen, wie immer, wenn Milde gezeigt werden soll, Vorschriften und präzise Angaben, was die Vertriebenen mitnehmen dürfen, wieviel davon und was nicht. Und wen man vertreiben muß, bestimmen natürlich auch wir, das Ergebnis: alle!, streng, aber gerecht, das ist unser Recht. In Bettauers Roman liest sich das, als hätte er die Nürnberger Rassegesetze gelesen und an der Wannseekonferenz teilgenommen. Die Wahrheit der Macht ist immer falsch, doch die Opfer sind echt. Sie können ihre Dienste anbieten, aber die können abgeschlagen werden wie Hände, die sich vergeblich nach etwas ausstrecken. Das werden wir ihnen dann aber auch nie vergeben.

Freud schreibt in „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ über einen bekannten Witz, in dem von einer in der Öffentlichkeit stehenden bedeutenden Person gesagt wird, er habe eine große Zukunft hinter sich. Mehr muß man über diese Person gar nicht wissen, der Witz schlägt zu und aus. Bei diesem Film könnte man dann vielleicht vom Witz und seiner Beziehung zum allseits Bewußten sprechen. Alle wissen (und sagen es auch): Der Jude muß weg, mit ihm haben wir keine Zukunft. Bald haben wir den Juden hinter uns und endlich eine Zukunft vor uns (die aber auch nur entsteht, weil wir mit dem Juden ja eine so glorreiche Vergangenheit gehabt haben, die auf einmal nicht mehr zum Zug kommt, sondern zu einem andren Zug muß, weil jetzt halt die Zukunft endlich dran ist, lang genug haben wir gewartet). Damit fällt aber jede Komik sofort um, weil der Witz von den Füßen auf den Kopf gestellt wird. Sofortige Umkehr ist auf einmal angesagt, was sich keiner zu sagen traut, obwohl alle es wissen, bevor noch wirklich wird, daß die Zukunft wirklich aus ist. Aber wer soll den Ansager machen? Das Projekt Rückkehr wird bezeichnenderweise von einem Künstler eingeleitet, Künstler werden sowieso verachtet, da kommts auf einen Versuch mehr oder weniger nicht mehr an, die Künstler sind das gewohnt. Einer von allen hat eine Idee, einmal gings noch, einmal wäre jedoch schon einmal zuviel gewesen, hätten wir den erwischt. „Der Jude spricht die Sprache einer Nation, unter welcher er von Geschlecht zu Geschlecht lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer“, schreibt Richard Wagner, „das Judentum in der Musik“ betreffend. Hier im Film betrifft es einen Maler. Und dieser Künstler rettet wiederum alle, denn ein Jude ist alle Juden, oder: einer wie der andre! Doch erst einmal rollte die Gleichförmigkeit, die die Macht ja braucht, um alles bequem überblicken zu können, durch die Stadt, dann rollte die Erzwingung einer Gleichheit, die es nie gegeben hatte, über alle und alles hinweg. Und dann rollten die Räder der Züge, und nicht für den Sieg. Wer anders ist, fliegt raus aus der Volksanordnung, jederzeit, auch diejenigen, die sich vorhin noch als Teilhaber oder wenigstens Teilnehmer fühlen konnten. Das Überleben in dieser Stadt, wo man Walzer tanzt, aber nicht mehr lange, wo man Seide, Chiffon und Make-Up trägt, aber nicht mehr lange, spricht Volkes Stimme, welche Gottes Stimme immer nachahmt, ohne sie je gehört zu haben, denn Gott hat seinen Ariernachweis noch nicht gezeigt und soll daher gefälligst den Mund halten. Das werden wir ihnen noch eintränken, denkt sich der Maler, hier kann eine Lösung nur über die Brücke Alkohol und Fressen führen, die unter der Last beinahe einknickt, wir werden das neuerdings so reinrassige Volk in Gestalt eines seiner edelsten, garantiert reinrassigen Vertreter einfach ersticken und ertränken, genau, und zwar zur Abwechslung mit viel, viel Bier, üppigen Speisen und volkstümlicher Musik, humpa humpa. Sursum! Bumbum! Duliöh. Hören wir ihr doch zu: So spricht die Macht, sie spricht mit dieser einen Stimme, noch hat sie Humor, und die Musi spielt dazu, mit einer Stimme, die alles mit einschließt, wie die Stimme der Musik es gewohnt ist. So wird sogar die Musik unschuldig, weil sie es immer schon war. Und wir werden sie erschlagen wie Ungeziefer, die Juden, spricht die Macht, wir, die arische Bevölkerung, der sie die Arbeit weggenommen und nie wieder zurückgegeben und sogar das Geld dafür noch kassiert haben, wir umwölkte Bevölkerung haben diese schweren Opfer gebracht, indem wir die Minderheit vertreiben mußten, wir hatten keine Wahl, typisch, erst leiden wir so entsetzlich unter dieser Minderheit, daß es nicht zum Aushalten ist, und dann müssen wir auch noch drunter leiden, daß wir sie vertrieben haben! Alles kehrt sich gegen uns! Alle sind gegen uns, sogar wir selber! So ist das mit der Machtposition, wechselweise werden Dienste angeboten, aber man kann auch auf sie verzichten. Während die vertriebenen Juden (natürlich nicht die Flüchtlinge, die armen Ostjuden, die sind sowieso von allem und allen ausgeschlossen, die zählen nicht, die zählen auch wir nicht mehr, niemand zählt sie, sagen wir einfach, es sind Unzählige, auch wenn es weniger sind. Sie schauen seltsam aus, daher sieht man sie ja so deutlich. Allein wie die angezogen sind! Die werden auch uns noch arm machen, und wir werden dann alle zum Osten gehören!), während also die Vertriebenen noch über die Folgen lachen können, die das haben wird, wenn all diese Schönheit, die das Leben angeblich erst lebenswert macht, mit ihnen verschwindet — sie können es sich ja vorstellen, was dann passiert —, während sie also noch lachen, lachen sie schon nicht mehr und müssen Thorarollen für den Abtransport verpacken und Erde aus dem Boden kratzen, zum Andenken an eine Heimstatt, die sie nie hatten. Und dann ist das Leben selbst nichts mehr wert, allerdings nicht unser Leben, aber nie!, wir sollen leben hoch.

Die Oberfläche spiegelt, man sieht nichts dahinter, das ist aber auch nicht nötig, denn diese Oberfläche ist alles, was der Fall ist, und zugleich schöner Schein, und zwar deshalb, weil sie jeder sieht, und dieser jemand ist: niemand. Was? Was sie gesehen haben, war gar nicht die Oberfläche? Was haben sie denn dann gesehen? Nein, die Oberfläche war schon alles. Das wars schon. Die Oberfläche wurde weggeräumt, aber als die Tiefe des arischen deutschen Geistes darunter endlich schwer und gehaltvoll erscheinen sollte, tauchte etwas anderes auf, die Umkehr von des Kaisers neuen Kleidern: Darunter, unter den keinen Kleidern, war gar kein Kaiser, auch kein nackter, darunter war nichts. Ein wanderndes Nichts, das keine Spuren hinterließ, und genau das war dann die Spur. Die Kleider waren es schon, die waren da, die halten ewig, man kann sie auch umarbeiten lassen, mehr war da nicht, mehr ist nicht nötig. Aus einem Überzug wird kein Bezug, aber vielleicht eine Überzeugung, die auf nichts als Gefühl beruht, das mal der einen, mal der andren Seite seine Dienste anbietet. Gefühle sind elastisch, sie können alles in sich einschließen. Sperren wir halt wieder auf und lassen sie heraus. War da was? Nein. Eine Leere erscheint dahinter, welche nicht gähnt, sondern nur das Maul aufreißt. Es ist (und war) buchstäblich, wie wir sagen, nichts dahinter. Doch das Nichts hat sich erhoben und alles aufgefressen, was darüber war, was drübergezogen war. Und dann, danach, später sind sie durch Europa gezogen, die Heere, in denen alle das gleiche anhatten. Seide war es nicht. Heute ist es natürlich anders, oder soll man sagen: Heute ist es was andres, weil das eine unmöglich ist? Oder weil man es nur anders sieht, was bedeutet, daß man das heute anders sehen würde?

Diese Liebens- und Lebenswertheit (Hugo Bettauer, der nur Monate später vom arbeitslosen Zahnarztgehilfen Otto Rothstock ermordet wurde, hatte eine bitterböse Parabel geschrieben, aus der ein liebenswürdiger, witziger Film wurde. Doch all diese Liebenswürdigkeit wird aufgrund der Differenz zum darauffolgenden Schrecken nur noch schrecklicher) wird hier durch die Ahnung von etwas wie lebensunwertem Leben ersetzt, wartet nur, balde. Die sind es nicht wert, sie sind nichts wert. Wenn die Herrscher das merken, wie es ohne Anmut, aber auch ohne Eleganz bei uns aussieht, werden sie gewiß umdenken, damit sie wieder seidene Unterwäsche und Abendkleider aus Satin kaufen können, aber gewiß doch! Niemand, auch Bettauer in seiner Scharfsichtigkeit nicht, konnte sich das Maß der Vernichtung auch nur vorstellen, das einmal kommen sollte. Er selbst wurde noch im Einzelmord, in Handarbeit getötet. Danach haben die Menschen sich in Maschinen verwandelt, und diese Maschinerie ist angerollt und über alles drübergefahren, danach war nichts mehr, auch wenn da noch etwas war, das wir heute bei Gedenkfeiern schrecklich oder entsetzlich nennen und beschwören, oft auch als leere Worthülsen, Kleider des Schreckens, Blusen des Bösen. Es waren in diesem Irgendwo, in diesem kleinen Österreich, diesem ewigen Gernegroß, alle verfallen, die wunderbaren Kleider hingen mitsamt ihren Applikationen aus Stoff, Perlen, Strass in Fetzen, nachdem das Wahre das Machtgemäße wurde und daneben nichts mehr Platz hatte. Es gab nicht einmal etwas wie Nützlichkeit mehr, wem nützen schöne Kleider, wem nützen elegante Frauen in Pelz oder feinem Tuch? Ja, genau, das kommt noch dazu, und dann kommt es wieder weg: Nicht einmal mehr auf das Nützliche, das die lieben Wiener in diesem Film beschwören, kommt es an, es kommt auch nicht auf einen Zweck an, wenn alle Kruppstahl werden und zäh wie Leder und biegsam wie eine Gerte (das ist für die Mädeln unter uns gedacht, dafür gibts neue Turnhosen und Leibchen aus einheimischer Erzeugung).

Wenn man leidet, kommt immer noch mehr Leiden, es gilt nur noch die Macht, die sich selbst ermächtigt hat, alles zu tun, was sie will, vom Johlen Hunderttausender begleitet, die so dicht gedrängt stehen, daß man gar nicht sieht, was sie anhaben, ist ja auch egal, Hauptsache, man ist mit dabei, und das Wahre ist wahr nicht als Nützliches, sondern als in sich Mächtiges, wie Heidegger, der Philosoph der neuen Bewegung, sagt, wenn auch nicht in Bezug auf sich selbst, man selbst ist ja immer ausgenommen, sowas kann einem nicht passieren, es passiert immer anderen, die wir eh nicht brauchen und wegschicken, aus den Augen, aus dem Sinn. Welchen Sinn soll das haben? Wir wissen es nicht, wir waren ja nicht dabei. Zur Macht gehört die Gleichmachung, ein natürlicher Vorgang, auch wenn er etwas Arbeit macht, und jetzt tragen halt alle Uniform, zivilen, gehorsamen, gemütlichen Loden oder vernünftige Baumwolle, atmungsaktiv, was Menschen leider nicht immer sein können. Kein hoher Preis, wenn man dabei unter sich bleiben darf. Doch die Ironie, mit der die riesigen Barchent-Unterhosen den Damen vor den Leib gehalten werden, mit denen sie sich jeden Mann vom Leib halten könnten, bevor er überhaupt da ist (doch der katholische Mann schaut ohnedies immer nur auf die inneren Werte), diese Ironie, die ja Abstand fordert zu sich selbst und zum Gesagten, Gesagt und Getanen, schmilzt langsam zusammen, wenn es nichts mehr zu lachen gibt. Wenn dieser ironische Abstand verlorengeht, nein, nicht verlorengeht, sondern preisgegeben wird, nicht unter schicken Damenschuhen, sondern unter Knobelbechern, dann herrscht endlich die ersehnte absolute Gleichförmigkeit, welche die Macht so liebt. Die Macht lacht nie. Wozu auch. Sie läßt höchstens lachen, im Lichtspieltheater, und dort kann man dann jederzeit den Strom abdrehen. Geben wir ihr, was sie braucht! Sie gehört ja jetzt allein uns. Wie können mit ihr machen, was wir wollen. Die Macht und ihr Wesen verlangen nach dieser Gleichförmigkeit und der Erzeugung einer Gleichheit, die notfalls, denn soviel Not leiden wir auch wieder nicht, einfach erzwungen werden muß. So einfach ist das. Oder auch nicht. Alle machen mit. Die Ausreise aller Juden wird also vollzogen, die Züge fahren, und es erwischt jeden, auch einen, der wie eine Stürmerkarikatur aussieht und lachend erklärt, er sei ja gar kein Jude, was für ein glücklicher Zufall!, im Film ist das noch möglich, später wurden auch diejenigen, die sich nie als Juden gefühlt oder gelebt hatten, der Totalität geopfert, ohne die es keine absolute Macht gibt, die totale Macht, die wir wollen, solange sie nur uns gehört. Wenn die finanzielle Lage katastrophal wird und die Arbeiter ihre Arbeit nicht mehr finden, weil die Juden sie ihnen weggenommen haben, dann müssen die eben weg. Nichts da! Die Arbeit bleibt da. Doch wer gibt sie uns? Die Unternehmer geben sie uns, die aber zum großen Teil jetzt auch weg sind. Wer hat die Presse und damit die öffentliche Meinung? Der Jude. Wer hat Milliarden um Milliarden angehäuft? Der Jude. Wer sitzt an den leitenden Stellen der Großbanken und fast sämtlicher Industrien? Der Jude. Wer, wer, wer? Und was macht er sonst noch? Er praßt in Nachtlokalen, füllt die Kaffeehäuser und Restaurants und behängt Frauen mit Schmuck? Der Jude. Stücke schreibt er auch noch. Bilder malt er auch noch. Hier zählt es zum letzten Mal, was er getan hat, verehrte Anwesende! Zählen Sie ruhig nach! Die Minderheit muß weg, damit es der Mehrheit besser geht. Das ist wohl Grund genug. Wer zählt schon nach, wieviele Millionen es am Ende gewesen sein werden. Sie werden gut angelegt sein, damit wir alle endlich wieder gut aufgelegt sein können.

Und aus Olga Neuwirths neuer Musik zu dem Film, die das übliche Geklimper von Stummfilmmusik zur Wahrheit zwingt, soweit die Musik die Wahrheit überhaupt sagen kann, und die Musik reißt auch diese Differenz zwischen der Unschuld eines Films, der aus Licht und Nichtlicht besteht und dem schon sicher Gewußten (obwohl es noch gar nicht stattgefunden hat) auf. Zwischen dem Gewoge der triumphierenden Rücken des Umvolks, das grade die Juden entfernt hat, das müssen wir feiern!, und den langsamen, leisen, sich in diffusem Rauschen beinahe verlierenden Synagogengesängen, zwischen dem anschwellenden Volksgemurmel der verlogenen Wiedersehensfreude und dem Bocksgesang des allseits und allzeit beliebten Volkstümlichen fährt plötzlich die scharfe Schneide eines an Kanzler Schwertfeger angemaßten Motivs heraus, die Trompete reißt für einen Augenblick das schon wieder feiernde Volk (Hauptsache, es gibt was zu feiern!) auseinander, dann gehen die Wächter schlafen. Wer jetzt noch aufwacht, der wird aber schauen! Wer jetzt noch jubelt, der wird sich anschauen.