Klaus Kalchschmid, CRESCENDO

Zur Musik von Olga Neuwirth

Olga Neuwirth wagt viel und gewinnt noch mehr mit ihrer ebenso kühnen wie stilistisch vielfältig geschichteten Musik zu einem Film wie Die Stadt ohne Juden, der zugleich Antisemitismus vorführt und sich ihm entgegenstellt: „Um Klischees zu entgehen, auch wenn ich sie oft andeute, habe ich versucht, eine Lebendigkeit zu bewahren, indem die Musik zugleich anrührend und hart ist, herzenswarm und offen, amüsant und wütend, beteiligt und distanziert, humorvoll und traurig“, schreibt die Komponistin, die auch in ihrem Musiktheater die unterschiedlichsten Tonfälle konfrontiert, separiert, mischt oder gegeneinander verkantet.
Weitgespannte, elektronisch verfremdete Klangflächen wummern, wimmern und vibrieren, als fluteten sie einen riesigen hohen Saal. Sie türmen sich auf oder fallen in sich zusammen, bleiben harmonisch in der Schwebe , als wären sie eine opake Wand, vor der das Geschehen umso deutlicher hervortritt. Dabei verlangsamen diese fast stehenden Klänge die heutige Wahrnehmung von jüdischer und christlicher Lebenswelt, Sakralem und Profanem, Arm und Reich. Das zwingt das Publikum zu erhöhter Aufmerksamkeit, zur Reflexion oder unwillkürlichen Anteilnahme.
Denn in die elektronische Samples mischt sich magisch die Musik jüdischer Rituale, wenn diese den Abschied aus der Synagoge oder gar den Marsch der Vertriebenen begleiten. Wehmütiges Gedenken äußert die Klage einer jiddischen Klarinette oder ein Saxophon. Hier komponiert Neuwirth auch einen fremdartigen Klageton der tiefen Streicher, bis plötzlich scharfe Trompeten- und Posaunen-Stöße die unhörbaren Worte des Bürgermeisters ätzen, der die Ausweisung aller Juden aus der Stadt verhandelt und beschließt. So trennt die Komponistin semitische und antisemitische Welt scharf voneinander. Die genuine und kompromisslose Musikdramatikerin spürt man nicht zuletzt, wenn sich für einen scheinbar harmlosen Zwischentitel („Der Bürgermeister“) plötzlich Gestus und Klang ändern, um den Text zu akzentuieren und dem Zuschauer ins Bewusstsein zu brennen.
Selten wird Neuwirth konkret, dann aber – fast ironisch – sehr präzise: da hört man förmlich die Massen schreien oder knallt eine Ohrfeige mit einem kurz aufjaulenden chinesischen Gong. Mal scheint für den von Hans Moser gespielten Antisemiten eines seiner Heurigen-Lieder auf, ein kleiner, unbeholfener Tanz charakterisiert Verliebte. Marschmusik gellt herein oder Trinker schunkeln im Bier-Dunst, in London schleicht sich die englische Nationalhymne unter und zwischen die Töne. Wie in „Lost Highway – A Video-Opera“ nach dem gleichnamigen Film von David Lynch, in ihrer musikalischen Überschreibung und inhaltlichen Neufassung von Alban Bergs „Lulu“ oder zuletzt dem Musiktheater nach Virginia Woolfs „Orlando“ potenziert Olga Neuwirth mit ihren kompositorischen Mitteln die Ambivalenz, aber auch das prekär Visionäre des Films.