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Olga Neuwirth

Camouflage und klangmächtige Wut

Meine persönliche Geschichte mit DIE STADT OHNE JUDEN geht auf die 1980er Jahre zurück, als ich auf einer intensiven Suche nach meiner Identität war. Dabei wurde ich bei einer privaten Führung durch das Naturhistorische Museum in Wien auf einige verwahrloste Bestände in der Museumssammlung aufmerksam. Es stellte sich heraus, dass ich zufällig auf die verdrängte Geschichte einer Sammlung von menschlichen Überresten ermordeter ­jüdischer Bürger gestoßen war, die als anthropologische Forschungsobjekte dienten. Schockiert erzählte ich Elfriede Jelinek von meiner Entdeckung. Sie ließ meine Schilderung in ein Kapitel ihres Buches Die Kinder der Toten [1995] einfließen, und das brachte den Stein ins Rollen. Es kam zu den ersten öffentlichen Debatten zu diesem Thema sowie zum Restitutions­vorgang und dem Begräbnis der menschlichen Überreste. Ebenfalls während dieser Zeit meiner „Identitätssuche“ las ich das unglaublich hellsichtige und visionäre Buch Die Stadt ohne Juden von Hugo Bettauer aus dem Jahre 1922. Und kurz danach sah ich die unrestaurierte Version des Stummfilms. Also kannte ich Die Stadt ohne Juden gut, als ich 2016 vom Wiener Konzerthaus angesprochen wurde, die Musik für die Weltpremiere der neu restaurierten Fassung des Films zu schreiben.

Heute, da Politiker wieder leere, formelle Ausreden für Rassismus und alltägliches Hassschüren finden, sollte endlich Schluss sein mit der Verharmlosung von überkommenen sprachlichen Begriffen und daher war es mir besonders wichtig, mit meiner Musik von der Vergangenheit (1922/1924) in die Gegenwart zu verweisen. Auch Judenhass wird heute wieder verstärkt zum Ausdruck gebracht, immer unverblümter – sogar in westlichen Demokratien. Der Hass ist nicht verschwunden, sondern wurde quasi nur absorbiert. Es ist tatsächlich an der Zeit, sich nicht mehr dumm zu stellen und die Parolen, mit denen wir überschüttet werden, nicht länger zu verharmlosen. Das Filmarchiv Austria hat den Film, der reich an Gestik, Mimik und sehr theatralischem Spiel ist, welches teils sogar in groteske Überzeichnungen abdriftet, sorgfältig restauriert. Im Jahr 1924 entstanden, mutet der Film nach Hugo Bettauers Roman wie eine apokalyptische Vision dessen an, was später Realität werden sollte. Der Journalist und Autor Hugo Bettauer wurde nur wenige Monate nach der Premiere des Films in seinem Büro von einem jungen Nazi ermordet. Der Mörder wurde nie verurteilt, er stand unter dem Schutz antisemitischer Anwälte und einflussreicher Politiker.

Musik zu diesem Stummfilm zu schreiben ist daher eine große Verantwortung. Es ist ganz klar, dass ich bei einem Medium, das so vergänglich ist wie die Musik, keine objektive Wahrheit zum Film beitragen kann. Daher konnte ich nur versuchen, dem Filmmaterial, nachdem ich es analysiert hatte, eine persönliche musikalische Perspektive zu geben: Eine Mischung an Vielschichtigkeit und produktiver Verunsicherung mit den Mitteln anspruchsvoller Camouflagetechniken, in einer Kombination aus ironischer Distanz und klangmächtiger Wut – über die Grausamkeit des Menschen aus reiner Selbstsucht, Gier und Neid. Indem ich mit unterschiedlichen Zitaten arbeite, wollte ich u. a. auch auf das Joviale verweisen, welches Teil der Sprache des Nationalsozialismus war und heute genauso wieder eingesetzt wird. Das Verstehen-Wollen von Mechanismen wie Macht, Populismus und Antisemitismus hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Politisches Engagement war und ist mein Versuch, mir das schamlose und ungebremste Hervorbrechen von Ressentiments, wie man es nun allerorts wieder sehen kann, bewusst zu machen. Das Buch, dem Bettauer 1922 den Untertitel Ein Roman von übermorgen gegeben hat, war auch als ironische, bitter-böse Analyse der Zeitumstände gedacht. Vor der Shoah. Anders als der restaurierte Film endet das Buch damit, dass der Wiener Bürgermeister zynisch und scheinheilig gurrt: „Mein lieber Jude …“. Wenn ein Österreicher einen auch heute noch mit „Mein lieber …“ beziehungsweise „Meine liebe …“ begrüßt, dann weiß man sofort: Achtung! In dem Buch wird drastisch dargestellt, wie die Menge, die gerade noch voller Euphorie johlte, dass alle Juden aus der Stadt vertrieben werden sollten, zu jubeln beginnt, als die Juden wieder gebeten werden zurückzukommen. Bettauer beschreibt es am Ende des Buches mit bitterer Ironie: „Fanfarenklänge, Trompetentöne, der Bürgermeister von Wien, Herr Karl Maria Laberl, betrat den Balkon, streckte segnend seine Arme aus…“. Ich muss jedes Mal lachen, wenn ich den Namen Karl Maria Laberl höre, weil er für mich eine klare Anspielung an Dr. Karl Lueger ist, den Leiter und Gründer der CS [Christlichsozialen Partei], der sich spätestens 1887 zu seinem Antisemitismus bekannt hatte.

Die deutschnationalen und christlichsozialen Fraktionen (die auch im Film erwähnt werden), schlossen sich 1887 zusammen und formten eine Union für die Wiener Gemeindewahlen; sie traten dann gemeinsam als „Vereinigte Christen“ auf. Viele junge Geistliche glaubten damals, dass die sozialen Probleme mit der sogenannten „Judenfrage“ zu lösen wären. Luegers antisemitische Rhetorik erlangte bei der Bevölkerung breite Popularität. Wie „Laberl“ im Wienerischen mehrere Bedeutungen hat, so hat auch der Name des österreichischen Bundeskanzlers „Dr. Schwerdtfeger“ einen Subtext; das klingt nach jemandem, der alles mit seinem Schwert beiseite fegt, ein „schwertfegender Haudegen“. Ursprünglich reagiert Dr. Schwerdtfeger reserviert auf die Idee der Judenvertreibung, setzt sich aber dann aus taktischen und selbstgefälligen Gründen an die ideologische Spitze dieser Bewegung. Er führt hoch emotionale Reden vor dem Parlament, wieso es unmöglich sei, mit der jüdischen Bevölkerung der Stadt zusammenzuleben. Hierzu werden verschiedene Stereotype aufgegriffen, die mit antisemitischer Rhetorik im Allgemeinen sowie Redeweisen jener Zeit stark übereinstimmen. Karl Kraus nannte 1899 in Wien den Antisemitismus die „Schmach des Jahrhunderts“.¹ Er glaubte weder an die Methode der Presse, Dinge zu verschleiern, indem man sie ins Lächerliche zieht, noch daran, sie totzuschweigen, um sie dadurch zu verharmlosen. Wie Karl Kraus war Bettauer ein analytischer, seiner Zeit kritisch gegenüberstehender Journalist. Ähnlich wie heute herrschten damals im Leben der Menschen drei epochale Grunderfahrungen vor: Verlustgefühl, drohende soziale Deklassierung und Abstieg, sowie eine Stimmung zwischen Revolutionsgeist, Hetze und Erregungskultur, die allerdings heute als Gegenöffentlichkeit häufig über soziale Netzwerke stattfindet. Zudem spitzte sich durch Inflation und Arbeitslosigkeit die angespannte Situation zu. Populismus wurde und wird eingesetzt, um gesellschaftliche Ungleichgewichte und Bruchlinien zwischen Reich und Arm, Stadt und Land, In- und Ausländern zu schüren.

Die aktuellen Parallelen zu diesen Hasskampagnen und dieser Verachtung sind erschreckend. Das Buch, das ich wiedergelesen habe, und auch der Film hatten eine schockierende Wirkung auf mich. Nicht nur wegen des Antisemitismus, der 1986 während der „Waldheim-Affäre“ wieder ganz offen auf den Straßen zum Ausdruck gebracht wurde, aber schließlich der Lüge ein Ende setzte, Österreich sei Hitlers erstes Opfer gewesen – sondern auch wegen der selben Mechanismen, die immer wieder dazu verwendet werden, um die Niederungsvielfalt der österreichischen Volksseele zu gewinnen. Mich betrübt die Tatsache, dass mit weltweit praktiziertem Populismus, Rassismus, Fremdenhass und Antisemitismus wieder Wahlkampf gemacht und dadurch die Gesellschaft gespalten wird. Mit Kinkerlitzchen wie Rechtsordnung oder Schutz der Minderheiten müsse man sich nicht mehr aufhalten. In diesem Sinn ist der Film, aber besonders Hugo Bettauers Buch, hochaktuell.

Zurück zur Musik. Es gibt keine einfache Antwort auf die komplizierte Beziehung zwischen Bild und Musik bei einem Film, der durch sein Thema eine prophetische Vision war. Natürlich will ich nicht in reine Repräsen­tation – oder „Mickey Mousing“, wie es Hanns Eisler nannte – verfallen, aber manchmal tue ich es trotzdem, und zwar wenn ich es für notwendig halte – auch immer wieder mit bitterer Ironie. Denn trotz meines Erstarrens vor Entsetzen (auch weil sich nicht viel geändert zu haben scheint, seit dem Erscheinen des ­Buches 1922), und um Klischees zu entgehen, auch wenn ich sie oft andeute, habe ich versucht, eine Lebendigkeit zu bewahren, indem die Musik zugleich anrührend und hart ist, herzenswarm und offen, amüsant und wütend, beteiligt und distanziert, humorvoll und traurig. Es geht nicht nur um den tief in der österreichischen Seele verwurzelten Antisemitismus, sondern auch um Identität und Fremdheit, Heimat und Flucht. Um nur ein paar meiner „Techniken“ zu erwähnen: Ich verwende mehrere Fragmente österreichischer Jodler, die ich veränderte. Sie sind Teil der Sample-Ebene, die den gesamten Film hindurch läuft, aber sie tauchen auch in manchen Instrumentalteilen auf. Auch benutze ich ein paar sehr kurze Ausschnitte von Heurigenliedern, die Hans Moser gesungen hat. Hans Moser, der im Film den antisemitischen „Rat Bernart“ spielt, war damals schon ziemlich berühmt, dank seiner Auftritte in der Wiener Kabarett- und Revueszene nach dem Ersten Weltkrieg, und wurde später zur Ikone des typischen weinliebenden, melancholischen Österreichers, der trinkt, um zu vergessen. Die Verwendung existierenden musikalischen Materials findet sich darüber hinaus auch in einem fragmentierten Zitat eines Lieds, das in Österreich bei rechtspopulistischen Wahlveranstaltungen der letzten Jahre zum Einsatz kam.² Es erschreckt mich, mit welcher Hingabe viele Leute dieser Art von nationalistischen Parolen und manipulativer Musik folgen. Ja, leider war Österreich immer und immer wieder ein Vorreiter für rechtspopulistische Bewegungen …

– In memoriam Hans Huch –

 

1    Karl Kraus: Die Fackel, I. Jahr, Heft 24 (11/1899), S. 7
2    „Werner Otti singt die freiheitliche Hymne ‚Immer wieder Österreich‘ in der neuen ‹Flagge zeigen 2016›-Version für die Wahlkampagne mit Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer“, online im YouTube Channel „FPÖ TV“ unter https://www.youtube.com/watch?v=IcV6aUw4xhU