English version
Eng
Inhalt
Synopsis
Ein vergessenes Meisterwerk
Ein Leben – spannend wie ein Film
Filmstadt Chicago
Magic Cities
Wie der Arbeiter wohnt
Die Uraufführung
Im Spiegel der zeitgenössischen Kritik
Hauser wird das Prädikat verwehrt
Die Wiederentdeckung
Der Fotograf
Hauser und Schonger
Heinrich Hauser
Hubert Schonger
Inhalt
Ein vergessenes Meisterwerk
Ein Leben – spannend wie ein Film
Filmstadt Chicago
Magic Cities
Wie der Arbeiter wohnt
Die Uraufführung
Im Spiegel der zeitgenössischen Kritik
Hauser wird das Prädikat verwehrt
Die Wiederentdeckung
Der Fotograf
Hauser und Schonger
Heinrich Hauser
Hubert Schonger
Zur Musik
Zur Restaurierung
Impressum
„Ein Film, den man unbedingt erlebt haben muß: Das ist die Illusion von Chicago, mit seiner Aktivität, Atmosphäre, Phantastik. Mit seinen krassen Gegensätzen, seinem rasenden Lebensrhythmus. Da gibt es Bilder von einer Eindringlichkeit, die in Erstaunen setzt. Einstellungen, die frappieren. Vorbildlich montiert, packend von Anfang bis zum Schluß!“
LICHTBILD BÜHNE 1931
Synopsis
CHICAGO – WELTSTADT IN FLEGELJAHREN steht in der Tradition so berühmter Städtefilme wie Walter Ruttmanns BERLIN, DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (1927), Michail Kaufmans MOSKAU (1927) oder Alberto Cavalcantis Paris-Film RIEN QUE LES HEURES (1926). Im Spannungsfeld zwischen Avantgarde und Kulturfilm, zwischen technischem Fortschritt und den Schattenseiten der Industrieproduktion behauptet sich Hausers Porträt als persönliche, sachliche und nüchterne Beschreibung der damals zweitgrößten amerikanischen Stadt. Die Menschen, die sie bevölkern, stehen im Zentrum. Hauser war der Neuen Sachlichkeit verpflichtet – und sich selbst. Hier erstmals die digital restaurierte Fassung mit der neu vom WDR Funkhausorchester eingespielten Musik von Andy Miles. Als zweiter Soundtrack findet sich die von Wilfried Reichart und Hans-Ulrich Werner eingerichtete Tonfassung mit Passagen aus Hausers Chicago-Buch mit nachempfundener Soundkulisse.
„Immer wieder ist das rein Bildmäßige dichterisch erfaßt. Das gleiche Panorama wird von einem Dutzend wechselnder Kamerastandpunkte eingefangen; und in der Veränderung schafft es die Summe der Eindrücke. Die Brücke als Vedute, die Zufälligkeit des Moment-Kurbelns noch instinktiv-ästhetisch ausgewogen: Das ist nicht Kunstgewerbe, sondern Kunstwerk.“
FILM KURIER 1931
Ein vergessenes Meisterwerk des internationalen Dokumentarfilms
Der Deutsche Heinrich Hauser, 1901 laut Geburtsschein in Preußen geboren, drehte in Chicago lange, bevor es Hollywood tat. Sein Film kommt ohne Stars aus: keine impressionistische Studie, kein experimentelles Städtepoem, kein touristischer Reisefilm, keine gestellten Aufnahmen, schon gar nicht einer der gängigen Kulturfilme. Die Stadt selbst und die Menschen, die sie bevölkern, stehen im Zentrum. Hauser war der Neuen Sachlichkeit verpflichtet – und sich selbst.
Ein Leben – spannend wie ein Film
Heinrich Hauser war vielleicht der letzte große Selfmademan, den Deutschland hervorgebracht hat. Er war einer, der über den Tellerrand der deutschen Provinz hinaussah. Er war Schriftsteller, sein Roman BRACKWASSER wurde 1928 mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet und nach seinem Tod verfilmt, Journalist, für vier Monate Chefredakteur des STERN, Feuilletonist, er schrieb Science Fiction, war Fotograf, Filmemacher zu einer Zeit, als der Begriff nicht sehr gebräuchlich war. Literarisch und politisch schwer einzuordnen, erneuerte er die deutsche Sprache und spaltete die Geister. Er musste nicht fabulieren, um zu seinen Stoffen zu kommen. Seine Stoffe kamen zu ihm. Er nahm sie aus dem Erlebten, aus dem Gesehenen. Schließlich war er mit seinen wachen Augen viel unterwegs in Deutschland und der Welt: Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, er war beim Zirkus und ständig auf der Flucht vor dem bürgerlichen Leben, ein Weltreisender, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile, Student, Schmuggler, See- und fünffacher Ehemann, Technikexperte, Automobil- und Flugnarr, Pilot und Testfahrer, Emigrant und Remigrant, Farmer in den USA, hyperaktiv, ein Rastloser, ein von seinen Visionen Getriebener, vielleicht fand nicht einmal sein Leben im März 1955 ein natürliches Ende: ein Abenteurer durch und durch wie sonst nur Jack London. Hausers Leben ist spannend wie ein Film. Hausers Leben ist ein Film. Und darum sind auch die wenigen Filme, die er gemacht hat, spannend und lohnen die Wiederentdeckung.
Filmstadt Chicago
Chicago, die Millionenstadt im US-Bundesstaat Illinois, am Südwestufer des Michigansees gelegen, diente häufig als Kulisse für Spielfilme. Obwohl es dort schon 1907 ein bekanntes Filmstudio gab, die Essanay Film Manufacturing Company, wo Wallace Beery, Francis X. Bushman, Gloria Swanson, Mitinhaber „Broncho Billy“ Anderson, Ben Turpin und Charles Chaplin filmten, entstanden die klassischen Filme, die wir gewöhnlich mit Chicago assoziieren, in Hollywood. In SCARFACE, THE FRONT PAGE und HIS GIRL FIRDAY war der Eindruck von Chicago nichts weiter als Studiokulisse. Erst später nutzte das Kino Original-Schauplätze: Der mit halbdokumentarischen Stilmitteln hergestellte CALL NORTHSIDE 777 war der erste Hollywoodfilm, der 1947, angeregt auch vom italienischen Neorealismus, on location in Chicago entstand. Die Abkehr vom traditionellen Studiofilm machte später Produktionen möglich wie THE UNTOUCHABLES, HOME ALONE, GROUNDHOG DAY, THE COLOR OF MONEY, OCEAN’S TWELVE, THE BLUES BROTHERS, THE DARK KNIGHT, TRANSFORMERS, ROAD TO PERDITION oder PUBLIC ENEMIES mit Johnny Depp. (Die Filmversion des Musicals CHICAGO allerdings entstand wiederum im Atelier in Hollywood.)
Der Schriftsteller und Fotograf Heinrich Hauser drehte in Chicago lange, bevor es Hollywood tat. Sein Film kommt auch ohne Stars aus. Die Stadt selbst und die Menschen, die sie bevölkern, stehen im Zentrum.
Magic Cities
Städte als Stars – das war die Idee der avantgardistischen Filmemacher der 1920er-Jahre.
Angeregt von einem Gedicht von Walt Whitman, drehten Charles Sheeler und sein Freund Paul Strand 1921 eine Liebeserklärung an New York, MANHATTA. Im Sommer 1926 schilderte Alberto Cavalcanti, ein gebürtiger Brasilianer, einige Stunden, Morgen bis Abend, in Paris in RIEN QUE LES HEURES [NICHTS ALS DIE ZEIT]. Im Vorspann hieß es: Dieser Film erzählt keine Geschichte. Er besteht nur aus einer Abfolge von Impressionen über die Vergänglichkeit der Zeit und will keineswegs die Synthese irgendeiner Stadt herausarbeiten. Der deutsche Experimentalfilmer Walter Ruttmann folgte ein Jahr später mit einem auf Film gebannten Tagesablauf von BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSSTADT. Edmund Meisel, der Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN „vertont“ hatte, schrieb die Begleitmusik. Ebenfalls 1927 erschien MOSKAU, den Dsiga Wertows Kameramann Michail Kaufman und Ilja Kopalin realisiert hatten. Nicht zu vergessen ein Semi-Dokumentarfilm, der vier Menschen einer Großstadt in den Mittelpunkt stellte: MENSCHEN AM SONNTAG, eine Gemeinschaftsarbeit, die Robert Siodmak, Edgar Ulmer, Billy Wilder und Kameramann Eugen Schüfftan 1929 im Berliner Grunewald und am Wannsee gedreht hatten.
Das Porträt der Stadt Chicago, das Hauser gezeichnet hat, steht ganz in der Tradition dieser Filme und ist doch ein ganz eigenständiges Werk: keine impressionistische Studie, kein experimentelles Städtepoem, kein touristischer Reisefilm, keine gestellten Aufnahmen, schon gar nicht einer der gängigen Kulturfilme. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN fällt aus dem Rahmen.
„Ein mutiger, entschlossener, photographisch charakteristischer Film mit sozialem Verantwortungsbewußtsein. Ein Film, den jeder Amerikaschwärmer vor der Überfahrt sehen sollte. Ein Fingerzeig auf das ‚Paradies Amerika‘“
DER FILM 1931
Wie der Arbeiter wohnt
Hauser porträtiert die zweitgrößte amerikanische Stadt sehr persönlich, sachlich und nüchtern, ohne Schnörkel und doch mit einem großen Verständnis für das Environment, die Architektur, die Fabriken und vor allem die soziale Situation der Menschen.
Ganz gleich, was die Kritiker schrieben: Er war fasziniert von Chicago. In seinem zum Film erschienenen Chicago-Buch beschreibt er die Metropole als „schönste Stadt der Welt“. Hauser folgt durchaus einem modernistischen, konstruktivistischen Trend. Seine Vision der Urbanität hat Stil und Größe. Dank der verkehrsgünstigen Lage an den Wassertransportwegen des Michigansees und des Chicago Rivers galt die Region schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als wichtiger Handelsposten. Nach dem Bau der Ost-West-Eisenbahnstrecke wurde sie das „Tor zum Westen“. Offiziell gegründet wurde Chicago am 12. August 1833. Vier Jahre später lebten dort 4200 Menschen. Als das Jahrhundert endete, waren es bereits über eine Million Einwohner. Entsprechend stiegen die Grundstückspreise. Um Grundflächen ökonomischer zu nutzen, ging der Trend beim Bauen in die Höhe. Chicago wurde eine Stadt der Skyscraper. Während der Prohibition war Chicago berüchtigt als Metropole der Mafia. Hauser kam nach Chicago auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Kurze Zeit, nachdem er seine Dreharbeiten beendet hatte, wurde Al Capone vor Gericht gestellt.
Was Hauser an Filmbildern aus Chicago mitbrachte, sei keiner der gezielten Rhythmisierungen, die sich zur Geschwindigkeit der Großstadt mimetisch oder konkurrierend verhalten, wie man es aus anderen Stadtfilmen der 1920er-Jahre kenne, schreibt Volker Pantenburg [1]: Zu keiner Zeit versuche er das städtische Geschehen seinen eigenen Prinzipien unterzuordnen. Eher lasse er sich mitnehmen von dem, was ihm ins Auge falle. Hauser, ganz der Fotograf, komponiert seine Bilder sorgsam, aber er oktroyiert ihnen in der Montage keinen Plot auf.
Zuerst einmal erkundet er nicht die Stadt selbst, die am Anfang Silhouette bleibt, sondern geht mit seiner Kamera in die Umgebung, aus der heraus Chicago als vergleichsweise junge Stadt in kurzer Zeit gewachsen ist.
Ganz klar sind drei Themenblöcke zu erkennen:
Am Anfang stehen Flusslandschaften, Baumwollfelder, Raddampfer.
Dann sehen wir das geschäftige Treiben der expandierenden Weltstadt, der automatisierten Fabriken und der Masse Mensch.
Schließlich dokumentiert Hauser – und hier merken wir, dass er nicht das Hohelied der Großstädte singt – die sozialen Schattenseiten des Lebens in Chicago. Er verklärt nicht, ganz im Gegenteil. Hauser kannte sehr wohl die gängigen Stadtfilme, seine Aufnahmen von Arbeits- und Obdachlosen verweisen auf Filme wie HUNGER IN WALDENBURG (1929) von Piel Jutzi und WIE DER ARBEITER WOHNT (1930) von Slatan Dudow. Die Depression fordert ihre Opfer: Hehler verhökern auf dem Trödelmarkt Diebesgut, Kinder spielen im Dreck. Hausers Kamerablick ist bei aller Sachlichkeit in diesen Momenten ein mitfühlender. Häufig genug lebte er selbst in materieller Not. Hauser begleitet den Hobo-Arzt, Anarchisten und Sozialreformer Ben Lewis Reitman (1879-1942), der zu den Arbeitern über das Thema Sowjetrussland spricht. Es ist die Kehrseite des American Dream, der wir in diesen Bildern begegnen, aber es geht nicht nur um das soziale Elend in den USA.
Allerdings ist das Interesse deutscher Künstler jener Jahre an Chicago schon auffällig. Dort spielte Brechts Frühwerk IM DICKICHT DER STÄDTE. Wahrscheinlich war Brecht Upton Sinclairs Chicago-Roman THE JUNGLE aus dem Jahr 1906 nicht unbekannt. Sinclair prangert auch die miserablen Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen der Stadt an. Brechts HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE ist kurz vor Hausers Film entstanden. Auch Hauser behandelt die Schlachthöfe kurz, aber prägnant. Er kontrastiert die Effizienz der Detroiter Autofabriken mit den Schlachthäusern Chicagos. Alles wird zum Fließband, auch der Mensch wird automatisiert. Eine weidende Schafherde ist nach einem der seltenen Zwischentitel 40 Minuten später zum Inhalt von Konservendosen verarbeitet. Hauser nimmt hier Georges Franjus LE SANG DES BÊTES von 1949 vorweg. Im deutschen Film des Jahres 1931 taucht die Stadt übrigens auch in PANIK IN CHICAGO von CALIGARI-Regisseur Dr. Robert Wiene auf, mit Olga Tschechowa in der Hauptrolle. Offensichtlich verdichteten sich in Chicago besonders augenfällig die Krise des Kapitalismus und die zunehmende Automatisierung, die im Menschen nur die Masse eines großen Getriebes sah. Dabei war Hauser alles andere als ein Technikfeind. „Die Technik“, schrieb er, „ist sicher etwas, was der Mensch überwinden muss. Aber man überwindet nicht, indem man flieht. Wir müssen durch die Technik hindurch und über sie hinaus, sie ist ein Fegefeuer, das uns prüft!“
Selten habe man im Film der Weimarer Republik schonungslosere und ehrlichere Bilder gesehen, findet der Filmhistoriker Jeanpaul Goergen, dem wir die Wiederentdeckung von WELTSTADT IN FLEGELJAHREN verdanken, zwar keinem verschollenen, aber einem zu Unrecht vergessenen Film.
Die Uraufführung
WELTSTADT IN FLEGELJAHREN war nicht für das normale Kinoprogramm vorgesehen, sondern für Matinéen und Sondervorstellungen. Die Uraufführung fand am 2. Oktober 1931 im Alhambra-Kino in Berlin im Rahmen einer neuartigen Kooperation statt, die verschiedene Berliner Kultureinrichtungen zur Förderung des guten und des Kulturfilms eingegangen waren. Die Degeto, die Deutsche Gesellschaft für Ton und Bild e.V., und die Gesellschaft Urania hatten sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen und zeigten an Sonntag-Vormittagen, jeweils um 11:30, in verschiedenen Berliner Stadtteilen ausgewählte kulturelle Filme.
Nach seiner Premiere lief WELTSTADT IN FLEGELJAHREN für kurze Zeit im mit 300 Sitzen vergleichsweise exklusiven Kino Kamera Unter den Linden, Berlins erstem Programmkino, das damals von der Gesellschaft für den Guten Film betrieben wurde.
Heinrich Hausers Film im Spiegel der zeitgenössischen Kritik
Die Resonanz auch unter namhaften Kritikern war seinerzeit sehr positiv. Rezensenten mehrerer Branchenblätter und Zeitungen äußerten sich anerkennend: Film-Kurier, LichtBildBühne, Reichsfilmblatt, Vossische Zeitung, Berliner Börsen-Courier, Börsen-Zeitung, Vorwärts. Was uns heute an Stilmitteln so vertraut erscheint, ist damals eine Pioniertat.
Wir erleben in letzter Zeit immer wieder, dass Nichtfachleute an Eindruckskraft ihrer filmischen Geschichte langjährige Routiniers weit übertreffen. So auch diesmal: der Schriftsteller Heinrich Hauser schuf auf einer Amerikareise einen Film, so ganz nebenbei scheinbar, aber mit beispielhafter Erfassung des Wesentlichen.
Chicago, New Yorks aufstrebende Konkurrenz, ist das Feld der Betrachtungen des Dichters. Ausgezeichnet schon der Titel: Was sind Flegeljahre anderes als jugendliche Unausgeglichenheit, der Beginn der Kämpfe zwischen jugendlicher Reinheit und den ersten Erfahrungen mit dem illusionslosen Leben! Chicago in der Pubertät: größer noch als in älteren Metropolen ist hier der Unterschied zwischen Reichtum und Elend, plötzlicher der Übergang von den Licht- zu den Schattenseiten des Lebens. Hauser hebt das mit scharfem Blick hervor: sein Chicago bringt die breiten Autostraßen, die schönen Reitwege und kühnen Fassaden finanzkräftiger Wolkenkratzer nur augenblicksweise als Kontrast zu jenen trüben Stadtteilen, wo das heulende Elend herrscht.
Zusammenfassend nennt Kurt London, von dem die Rezension stammt, WELTSTADT IN FLEGELJAHREN einen „Fingerzeig auf das ‚Paradies Amerika‘“. [2]
Als der Film später nach seiner Wiederentdeckung in Italien aufgeführt wurde, lief er unter dem unserer Meinung nach auch sehr treffenden Titel UNA METROPOLI IN EVOLUZIONE: RAPPORTO SU CHICAGO. Die Evolution einer Weltstadt. Hauser hat im Grunde einen Teil einer Evolutionsgeschichte gefilmt. Nur so wird der Film verständlich. Nur so offenbart er sich dem Zuschauer: Aus den Wassern heraus bohrt sich die Stadt, der Mensch bevölkert sie, die Automatisierung entledigt sich des Menschen. Hauser ist ein geduldiger Beobachter. Ob er einen Masterplan hatte, ob ihm dieser evolutionäre Prozess erst während der Arbeit oder später beim Schnitt aufgefallen ist, können wir heute allerdings nicht mehr sagen.
Es ist eher ein Unbehagen, eine Ahnung, die ihn treibt. Er kann nicht wegsehen von dem Elend, das die Weltwirtschaftskrise aufgerissen hat: wie überall Rekord-Arbeitslosigkeit, Armut, 40.000 Obdachlose, Verelendung, Alkoholismus, Kriminalität. Das hat nichts mehr zu tun mit der urbanen Romantik der Berlin-verklärenden SINFONIE DER GROSSSTADT von Ruttmann. In der Sinfonie der Maschinen wirken die Menschen oft wie Fremdkörper.
Der Schriftsteller Heinrich Hauser hat Amerika bereist und wie andere Leute einen Fotoapparat, so hat er eine Filmkamera mitgenommen. Er betrachtete durch das Objektiv Wolkenkratzer und zerlumpte Buden, Straßenschluchten, vollgepfropft mit Autos, und riesige Parkanlagen, in der Eichhörnchen der Hand des Menschen einen freiwilligen Besuch abstatten. Er filmte den Mississippi und die laufenden Bänder in den Fabriken, einen Raddampfer und eine Luftschaukel und vor allem die Menschen auf der Straße, weder die reichen und angesehenen, noch die Al Capones, sondern den kleinen Mann, der in der großen Stadt kümmerlich dahinsiecht.
So entstand, von einem Outsider gedreht, eines der erschütterndsten Filmdokumente über das „Paradies Amerika“. Einzelne Szenen sind unvergesslich: der Antrieb des Viehs in die Schlachthäuser, zerlumpte Arbeitslose zu Füßen eines pompösen Denkmals, ein Alkoholvergifteter, der sich mitten auf einer belebten Straße in Krämpfen windet. [3]
Ein Film, den man unbedingt erlebt haben muss, um wirklich zu wissen, was „Filmreportage“ heißt. Nur ein wirklicher, reifer Künstler konnte sich so äußern wie hier geschehen. Das ist die Illusion von Chicago, mit seiner Aktivität, Atmosphäre, Phantastik. Mit seinen krassen Gegensätzen, seinem rasenden Lebensrhythmus. Da gibt es Bilder von einer Eindringlichkeit, die in Erstaunen setzt. Einstellungen, die frappieren. Vorbildlich montiert, packend von Anfang bis zum Schluss, spricht dieser stumme Film stärker zu uns als mancher „Ton“-Film. [4]
Schon viele Städtebilder sind über die weißen Leinwände unserer Lichtspieltheater gerollt – gute und böse, falsche und wahre, gestellte oder erfasste, propagandistischen oder wohltätigen Zwecken dienstbar. Städtefilme, bei denen man aus dem Gähnen nicht herauskam, – und solche, bei denen das der Schnitt nicht zuließ. Dieser Film aber, der zum erstenmal seit der Geschichte des Kulturfilms eine Stadt so zeigt, wie sie tatsächlich ist, nämlich von ihrer negativen Seite her – – ohne die positiven totzuschweigen! – – dieser Film verdient besondere Anerkennung. Zunächst um seiner Sachlichkeit willen – – da gibt es kein Bild, das etwa um seiner dekorativen, ästhetischen Wirkung wegen aufgenommen worden wäre, keine noch so kleine Stelle, die irgendwie „gestellt“ oder „gemacht“ wirkt. Das ungeschminkte Bild einer gigantischen Riesenstadt von heute, erst von ihrer Peripherie aus generell, – dann aber mit Nüchternheit aus der Nähe betrachtet. Hauser verschweigt nichts, was – für den Verkehrsverein der Stadt Chicago, falls es einen gibt – kompromittierend sein könnte. Er zeigt aber ebensowenig, was für die ewig Missvergnügten Anlass zu einer politischen Denunziation sein könnte. Ein Film von Kultur, mit Herz und Verstand gemacht, intelligent gesehen und virtuos erfasst. [5]
Heinrich Hauser schreibt Bücher und er macht Filme. Beide sind, so wie sie sich präsentieren, aus einem Guss. Sie sind Emanationen einer Persönlichkeit. Man muss das Geschaffene also als Ganzes werten.
Dieses eben macht des Hauser-Filmwerks Reiz aus. Es ist ein Autoren-Film, optisches Geistesprodukt eines Mannes, der zur Kamera greift, wenn die Schilderung mittels gedruckten Wortes ihm zu abgegriffen erscheint.
Autorenfilm -, wir haben dieser Gattung nicht allzu viele.
Heinrich Hauser sieht Chicago, und wir sehen es mit ihm. Und da stellt es sich heraus, dass diese Weltstadt am Rande des Michigansees hinter der offiziellen Fassade des Weltstandards an Kriminalität in beängstigendem Tempo Flachland zu Häuserreihen umwandelt.
Die Hauser-Kamera zeigt uns noch viel mehr. Vom Fluss her wird man sacht in die Stadt geschwemmt. Auf Raddampfern, die dem Freund unserer Jungensjahre, Tom Sawyer, den Inbegriff an Eleganz bedeuteten.
An der Metropole-Peripherie nimmt der Begriff des Siedelns Gestalt an. Bagger furchen die Erde, Krane schneiden gleich Sauriern die Luft. Maschinenbilder mit Teilausschnitten wie zuvor das ewige Schaufelrad des alten Flussdampfers; als Fortbewegungsmoment.
Maschinen, nur Maschinen? – wie fließend ist das alles, wie eindrucksstark im Bild-Rhythmus. Das ist keine Symphonie der Arbeit, kein hohes Lied des Fabrikationsbetriebs. Nur: Ein Stückchen Leben, wie es halt in Wirklichkeit ist. Und das gerade hat jenes unwägbare… keine Doktrin vermags zu ersetzen.
Noch das Uncharakteristische wird typisch. So der Verkehr mit dem Durcheinanderhasten. Oder die grandiose Fahrt auf der Hochbahn, mitten durchs Herz Chicagos.
Immer wieder ist das rein Bildmäßige dichterisch erfasst. Das gleiche Panorama wird von einem Dutzend wechselnder Kamerastandpunkte eingefangen; und in der Veränderung schafft es die Summe der Eindrücke. Die Brücke als Vedute, die Zufälligkeit des Moment-Kurbelns noch instinktiv-ästhetisch ausgewogen: Das ist nicht Kunstgewerbe, sondern Kunstwerk.
Dieser Weltstadtbericht zeigt, was ist. Die herumlungernden Arbeitslosen, den Trödel-Markt des Unter-Proletariats: Elendsgestalten, gar nicht romantisch; Mulattenkinder [sic!], in tiefstem Schmutz zu Hause. Das nimmt Gestalt an, tönt Leben, auch in der stummen Filmform.
Die Kamera erfasst es, ordnet Bewegungsvorgänge zu einem Zeitbild. Dessen Kontraste zur Gepflegtheit der Parks jenseits der Armutsquartiere bilden Grünflächen, auf denen Arbeiter politische Meetings halten: nicht ohne den Polizisten vom Dienst, der den Gummiknüppel mit lässiger Eleganz griffbereit hält. […]
Ein frischer Wind weht aus dem Sehwerk, das den Blick weitet. Zum Schauen bestellt, sind wir beglückt.
Chicago blendet auf! Und siehe da, es offenbart bei näherer Bekanntschaft die Uniformität der zeitgenössischen Menschen-Anhäufung.
Diese Einheit im Differenten, diese Gemeinschaft gleicher Sorgen, bleibt des Hauser-Films stärkster Eindruck. [6]
Hier taucht es auf: das Wort Autoren-Film. Aber es ist nicht die Rede von den Vorgängern der Regie-Auteurs der Nouvelle Vague, hier wird vielmehr ein Begriff übernommen, der in den 1910er-Jahren geprägt wurde, als Schriftsteller eingeladen wurden, für das noch scheel angesehene junge Filmmedium zu schreiben. Zu diesen wirklichen Film-Dichtern gehört Hauser allemal.
Leicht antiamerikanische Töne, die heute wieder sehr modern, aber Hauser selbst fremd sind, schlägt der Fritz Olimsky in seiner Kritik an:
Hauser hat hier mit der Filmkamera auf seiner Reise all das eingefangen, was ihm wesentlich an Chicago war. Und als wesentlich erschien ihm nicht die Welt der eleganten Nichtstuer und süßlichen Flapper, wie wir sie aus den amerikanischen Filmen zum Überdruss kennen. Ihm war es vielmehr zu tun um die Welt des Alltags und der Arbeit, des schaffenden Volkes und der unter die Räder des Wirtschaftsgetriebes Geratenen. Sicherlich ist sein Gesichtspunkt auch einseitig, aber diese Einseitigkeit bedeutet für uns ein gesundes Gegengewicht gegen jene andere Einseitigkeit des herkömmlichen amerikanischen Films, in dem alles süß und lieb und nett zugeht, in dem der sympathische Chef keine andere Sorgen hat, als seine schönbeinige Sekretärin zu heiraten und so. Hier also die Kehrseite.
Besonders bemerkt sei gleich noch, dass ersichtlich an diesen Aufnahmen nichts gestellt ist, hier wurde das Leben abphotographiert, wie es ist, nur eben durch eine besondere Brille gesehen. […]
Ein Amerika, das schlechterdings nichts mit der uns allen sattsam bekannten Welt des amerikanischen Films gemein hat. Und dieses ist das ungeschminkte, wirkliche Amerika. Eine geradezu erschütternde Entdeckung, die wir Kinobesucher da machen. Man hat uns ein Jahrzehnt lang belogen und betrogen, jetzt zerrinnen alle Amerikaillusionen, und wir sehen eine bittere, alles andere, als verlockende Wirklichkeit, sehen statt der sonst im amerikanischen Film beneidenswerten Sorglosigkeit Brutalitäten des Wirtschaftskampfes, die einen dieses große Vorbild Europas – und das ist Amerika doch für sehr viele – beinahe hassen lehren. Wirklich, dieser Film hat es in sich, er erweitert einem meilenweit das Gesichtsfeld, und das kann man sonst nicht gerade oft behaupten. [7]
Doch was wir in Chicago sehen, das finden wir auch in vielen anderen Großstädten vor. Das ist nicht nur Amerika – das ist eben, um noch einmal Brecht zu zitieren, das Dickicht der Städte:
Man sieht nicht das Chicago der Hollywooder Verbrecherfilme, sondern eine typisch amerikanische Weltstadt. Man sieht ungeheure Kräne an der Arbeit, immer wieder drehen sich Räder… Sind diese Maschinenbilder aber nicht auch für jede andere Großstadt charakteristisch? Hier spürt man deutlich, dass Hauser nicht filmt, sondern photographiert. Sein Auge bleibt an jedem Detail haften.
So relativiert ein anderer Rezensent und resümiert, Hausers erschütternde Bilder von den Armen und Ärmsten, von den Erwerbslosen und Arbeitssuchenden sei unversehens weniger ein Bild Chicagos als ein Bild unserer Zeit. [8]
Siegfried Kracauer sieht die „Frische dieser Reportage“ in Hausers „Unabhängigkeit von der Branche“ begründet: Er schere sich nicht um die fragwürdigen Wünsche des Verleihs, sondern nehme auf, was gute Augen zu sehen vermögen. Stadtrausch hätte dieser Film genannt werden können, denn hier sei der Rausch Bild geworden, in dem einer oft tagelang besinnungslos durch die Straßen fremder Städte treibe.
Hausers Film wird das verdiente Prädikat verweigert
WELTSTADT IN FLEGELJAHREN ist unaufdringlich dialektisch – und das wird ihm zum Verhängnis. Klar, dass der Produzent, Hubert Schonger, angesichts der ausnahmslos positiven Resonanz der Kritik hohe Erwartungen in die Auswertung dieses Films setzt, aber sie werden mit einem Schlag zunichte gemacht, mit einem Federstrich.
Schonger will Hausers Film als Lehrfilm vertreiben, aber das entsprechende steuerbefreiende „Prädikat“ wird ihm von der in Berlin ansässigen halbamtlichen „Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht“, nach ihrem Vorsitzenden Professor Dr. Felix Lampe „Lampe-Ausschuss“ genannt, verweigert.
Die Rote Fahne, das Zentralorgan der KPD, berichtet über den Eklat:
Der junge Schriftsteller Heinrich Hauser hat einen sehr anständigen Reportagefilm geschaffen: Weltstadt in Flegeljahren. Er zeigt deutlich die Klassengegensätze, die in der Riesenstadt Chicago besonders krass hervortreten. Er verschweigt nicht, dass es hinter den pompösen Wolkenkratzerkulissen tiefes Elend und Massenarbeitslosigkeit gibt. Ja, er erlaubt sich sogar zu berichten, dass Arbeits-, Unterstützungs- und Obdachlose in den Parks über die Sowjetunion diskutieren und voll Sehnsucht nach diesem Lande blicken, wo man die „Segnungen“ der amerikanischen Prosperity nicht spürt.
Das war der republikanisch-deutschen Behörde, die darüber zu bestimmen hat, ob ein Film als Lehrfilm gilt und Steuerermäßigung genießt, zuviel des Guten. „Das wirre Durcheinander des Ganzen ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Lehrfilm nicht sein darf. Der Ausschuss sah auch nicht die Möglichkeit, einen Weg für die Verarbeitung des vorhandenen Bildmaterials zu einem den Anforderungen genügenden Bildstreifen aufzuzeigen.“ Mit dieser Begründung wurde der Hauser-Film abgelehnt.
Wir erkennen messerscharf, dass diese „Anforderungen“ Lüge und Gehirnverkleisterung heißen, und dass deshalb der Film nicht [sein] darf… Lehre ist in der Amtssprache des kapitalistischen Staates der Fachausdruck für Verschweigen und Schwindeln. Und ein Film, der die Wahrheit zeigt, kann eben nicht „lehrhaft“ sein. [9]
Über den Stand der Kulturfilm-Produktion im Beiprogramm der Kinos lamentiert auch der Kulturwissenschaftler Rudolf Arnheim, der ein Jahr später das Buch FILM ALS KUNST veröffentlichen wird:
Diese Filme sind wie Fremdenführer für alte Engländerinnen. Das Kinopublikum liebt sie nicht. Es frisst sich durch sie hindurch wie durch einen Grützewall, um ins Schlaraffenland der Harry Piel und Lilian Harvey zu gelangen. Der Kinobesitzer kümmert sich in diesem Fall wenig um die Unlust seiner Kunden. Er spielt den Film im Vorprogramm, weil er dann weniger Lustbarkeitssteuer zu bezahlen hat. Diese Vergünstigung verschafft ihm ein pädagogisches Konsortium: der Lehrfilmausschuss des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, geleitet von Herrn Doktor Günther.
Dieser Ausschuss hat ein gut Teil Schuld daran, dass die meisten Kulturfilme so langweilig ausfallen. […]
Eine unpersönliche Länder- und Völkerschau, Distanz zum Objekt, systematische Aneinanderreihung, lehrreiche Zwischentexte („Schon um 750 n. Chr. siedelten auf diesem fruchtbaren Schwemmland die Normannen und der zielbewussten Führung ihres…“), schematische Aufnahmetechnik. Solche Methoden sind für Atlanten und Lehrbücher am Platze, aber mit diesen kann und soll der Film nicht konkurrieren. Die Herren Lehrer wollen ihn dazu zwingen. Sie fallen dem Künstler in den Arm. Er soll mit seiner Kamera umgehen wie der Landmesser mit dem Theodoliten. Ein Beamter mit Mützenschirm im Nacken. Und sie fordern, dass den Kindern die Welt sanft und nicht zu hässlich gezeigt werde. In der Schulstube soll Ruhe und Ordnung sein, auch wenn draußen Gewalt, Armut und Widersinn herrschen. „Von den sonnigen Höhen grüßt ein Kirchlein munter zu uns herab.“ Dies und nur dies ist für den Unterricht erwünscht.
Heinrich Hauser, der hochbegabte junge Wort- und Bildkünstler, hat es gewagt, seinen Chicago-Film, der ausgezeichnet ist und also die eben skizzierten Forderungen in keiner Weise erfüllt, dem Günther-Ausschuss einzureichen. Hier der Erfolg:
„Weltstadt in den Flegeljahren.“ – Unter diesem eigenartigen Titel will der stumme Bildstreifen einen Bericht über Chicago geben. Gezeigt wird der Mississippi, die Urbarmachung von Urwäldern, schwimmende Güterzüge, ein Schleppzug, Hochbahnen, Seeschiffe und eine Reihe andrer Bilder, die in keinem sinnvollen Zusammenhang zueinander stehen. Das wirre Durcheinander des Ganzen ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Lehrfilm nicht sein soll. Eine Anerkennung als Lehrfilm konnte überhaupt nicht erst in Erwägung gezogen werden. Der Ausschuss sah auch nicht die Möglichkeit, einen Weg für eine Verarbeitung des vorhandenen Bildmaterials zu einem den Anforderungen genügenden Bildstreifen aufzuzeigen.
Das Papier vibriert. Den Herren zittert die Lippe. Der Film wird nicht nur abgelehnt, nein, er ist eine Zumutung, ein Tiefschlag in die edelsten Weichteile der Pädagogik.
In Hausers Film steht die Stadt Chicago nicht als fernes Schaubild vor dem Publikum, sondern man ist mitten in der Stadt, rundherum ragen die Wolkenkratzer, Platzangst erregend, auf, die Autos jagen dicht vorbei, und durch das Fenster der Hochbahn blickt das Auge in immer neue Straßengründe. Amerika-Filme sind nichts Neues, aber kaum je ist es einem gelungen, das unmittelbare Gefühl für die spektakelnde Unruhe, das Alpdruckhafte einer solchen Stadt so kräftig wachzurufen. Dem Schulkind, besonders dem Kleinstadt- und Landkind, könnte durch diesen Film der Charakter der Großstadtzivilisation, auch der zukünftigen, begreiflich gemacht werden. Und Hauser zeigt als Kontrast gegen die weißstrahlenden Märchenfassaden die Abfallhaufen; zerbrochene Menschen, herumlungernde Arbeitslose, zerfallende Autoleichen. Er zeigt den Menschen als Teil der Maschine, er zeigt, wie riesige Maschinenteile am laufenden Band über einen leeren Hof schweben, ohne dass steuernde Hände zu erblicken wären, und fragt: „Wo ist der Mensch?“ Und er zeigt die Menschen zu riesigen Haufen zusammengerottet, nicht nur zur Arbeit, sondern auch zum Vergnügen, in den Strandbädern. Er zeigt spielende Kinder zwischen Schmutz und Verbrechen. Hausers Film ist nicht sanft und nicht unverbindlich, sondern unhöflich und ganz klar in der Stellungnahme.
Der Hauserfilm, schließt Arnheim sein Plädoyer gegen das, was er „Paukerfilme“ nennt, zeige ein Stück Welt, und die Welt sei heute in einem Zustand, den die Pädagogen nicht gern lehrreich nennen. [10]
Der Film, als Lehrfilm vorgesehen, wird als solcher abgelehnt, kommt gar nicht erst in die Kinos, läuft ganz kurz in den Niederlanden und verschwindet für Jahrzehnte in Schongers reichem Archiv.
„WELTSTADT IN FLEGELJARHEN umfaßt fünf Akte, die jeder ein Motivkomplex aufgreifen: der 1. Akt schildert das Leben auf und um den Mississippi , im 2. Akt dominiert das Thema des Verkehrs, der 3. Akt zeigt den Einsatz der Maschine in allen Bereichen der Produktion, der 4. Akt dokumentiert die Folgen der Technisierung und Modernisierung, während der letzte Akt mit den vielfältigen Freizeitvergnügungen der Großstadtbewohner versöhnlich endet.“
JEAN-PAUL GOERGEN 1995
Die Wiederentdeckung einer bewegten Stadt
Es dauert Jahrzehnte, bis WELTSTADT IN FLEGELJAHREN als wichtiges Dokument wiederentdeckt wird. Bei einer Vorführung im Rahmen einer Filmreihe im Hamburger Programmkino Metropolis im August 2000 wird Hausers Film musikalisch von der Gruppe Field begleitet. Die Journalistin Christiane Müller-Lobeck befragt die Kuratoren der Reihe Cinepolis [11]. Die gehen auch auf die musikalische Begleitung, denn WELTSTADT IN FLEGELJAHREN ist ein stummer Film. Eine Filmmusik existiert nicht.
Mathias Güntner: Am Samstag wird die Hamburger Gruppe Field im Metropolis Musik zu Weltstadt in den Flegeljahren [spielen]. Es ist auch ein Stummfilm, einer der letzten seiner Zeit, 1931 gedreht von Heinrich Hauser, der eigentlich Schriftsteller und Reporter war. Der ist damals mit seiner Handkamera im Gepäck einfach nach Chicago gefahren und hat ganz allein diesen 65 Minuten langen Film gemacht. Der Film ist nach seiner Uraufführung in Berlin trotz hervorragender Kritiken in den Archiven gelandet und nie wieder aufgeführt worden. 1995 ist er durch einen Berliner Filmhistoriker wieder entdeckt worden. Gleich daraufhin ist eine Berliner Gruppe drangegangen, ihn zu vertonen. Die Band hat sich aber inzwischen aufgelöst, nachdem sie längere Zeit mit dem Film durch Europa getourt sind. Wir haben uns dann entschlossen, Field, die früher auch schon einige Filme begleitet haben, damit richtiggehend zu beauftragen.
Was machen die für einen Sound?
Mathias Güntner: Das bewegt sich um Drum’n’Bass, Ambient und andere elektronische Musik herum. Aber sie spielen live mit Schlagzeug und Bass und allem Drum und Dran.
Thomas Tode: Der Film ist im Grunde viel besser als der Berlin – Symphonie einer Großstadt von Ruttmann, der in diesem Zusammenhang immer gerne als wichtigster genannt wird. Hausers beleuchtet viel stärker soziale Aspekte. Er ist zur Zeit der großen Depression aufgenommen und er hat auch die Situation der Schwarzen in seinen Film aufgenommen, die man sonst immer vergeblich sucht in den Filmen jener Zeit, oder die der Arbeitslosen.
Die Musikbegleitung ist fortan alternativ: Band oder Flügel. Eine im Niederländischen Filmarchiv gelagerte Kopie wird am 3. April 1997 gefunden. Gezeigt wird die restaurierte Fassung am 20. Dezember 2001 im Cinematheekreeks „de Metropool in het interbellum“ zusammen mit Chaplins THE IMMIGRANT als Vorfilm und Maud Nelissen als Pianistin, neun Jahre später, am 15. April 2010, mit Yvo Verschoor am Flügel. In Italien, am 3. Oktober 2015 im Teatro Verdi, sitzt Philip C. Carli am Flügel.
Hier ist auch der Pianist Charles Janko zu nennen, der zwar nicht die FLEGELJAHRE, wohl aber DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE, einen anderen Film von Hauser, an der Orgel der St. Jakobi Kirche Lübeck und später am Flügel in den Niederlanden begleitet.
Seine Wiederentdeckung verdankt WELTSTADT IN FLEGELJAHREN dem Filmhistoriker Jeanpaul Goergen aus Berlin, der von Mathias Güntner namentlich nicht genannt wird. In der Deutschen Kinemathek recherchiert Goergen 1979 in Unterlagen von Schonger:
In einer der Mappen befanden sich Unterlagen, in denen sich Hubert Schonger bitterlich beschwerte, den begehrten „Lampe-Schein“ der Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht für Weltstadt in Flegeljahren nicht erhalten zu haben. Nachdem der Film am 14. September 1931 die Prüfstelle Berlin passiert hatte, war er am nächsten Tag schon zur Begutachtung vorgelegt, jedoch mit der Begründung „wirre(es) Durcheinander“ nicht als Lehrfilm anerkannt worden. Schonger sah den Vertrieb des Filmes naturgemäß gefährdet, weil Kinos durch die negative Begutachtung für die Vorführung keine Steuervorteile in Anspruch nehmen konnten. [12]
Für den Film selbst, schließt Goergen, sei dies aber möglicherweise ein „Glücksfall“ gewesen, weil das Negativ seitdem unangetastet in Schongers Nachlass geblieben sei: sechs gut erhaltene, später stark geschrumpfte Rollen Originalnegativ. Die Länge im Bundesarchiv ist mit 1502 Metern angegeben, die Zensurlänge mit 1687 Metern.
1993 wird der Film restauriert, zwei Jahre später, am 19. März in der Kinemathek und am 15. September 1995 im Rahmen eines Kongresses der International Association for Media and History wiederaufgeführt, am 24. Januar 1998 im Filmmuseum München.
Eine weitere Renaissance erfuhr Weltstadt in Flegeljahren durch eine Aufbereitung für das Fernsehprogramm des Westdeutschen Rundfunks (WDR), Köln, durch Wilfried Reichart und Hans-Ulrich Werner. Weltstadt in Flegeljahren wurde zu diesem Zweck rekonstruiert, passende Texte aus Hausers Feldwege nach Chicago, Töne und Geräusche wurden unterlegt, und von Hausers damaligen Kamerastandpunkten wurden eigens neue Filmaufnahmen gemacht. Beide Filme – der historische Schwarzweißfilm von Hauser und der zeitgenössische Farbfilm des WDR – wurden zusammengekoppelt zu einer parallel auf dem Bildschirm verlaufenden Montage. Ergänzt wurde der somit neu entstandene Film durch Kommentare von Professoren und Studenten einer Filmhochschulklasse aus Chicago und eines einheimischen Zeitzeugen aus Hausers Tagen zu den Bildern von „gestern und heute“. [13]
Das Experiment wird am 1. Dezember 1998 im WDR 3 ausgestrahlt.
2003 endlich wird Hausers Film erstmals in Chicago gezeigt, unter dem Titel CHICAGO: A WORLD CITY STRETCHES ITS WINGS.
Der Fotograf
Die Filme sind echte Entdeckungen zu einer Zeit, da Hausers Ruf als Fotograf längst gefestigt ist.
In Hamburg kommt es zu einem sensationellen Bilderfund:
Wie so oft im Leben, führte auch bei der Entdeckung des Hauser Bilderschatzes der Zufall Regie. Es begann eigentlich mit der Vorliebe des Hamburger Werbefotografen Wolfgang-Peter Geller, dem Stöbern auf Flohmärkten. Trotz der knapp bemessenen Freizeit besuchte er auf seinen weltweiten Fotoreisen nahezu jeden Flohmarkt. Dabei entdeckte Geller so manchen persönlichen „Schatz“, den er als Erinnerung an jede dieser besonderen Reisen mit nach Hause nehmen konnte. Seinen größten Fund machte er jedoch vor einigen Jahren quasi direkt vor der Haustüre. Im benachbarten Winsen an der Luhe (bei Hamburg) entdeckte der Fotograf einen „Schatz“, der für die deutsche Fotogeschichte einen unermesslichen Wert darstellte. In Stapeln von alten und neuen Fotografien fand er neben Bildern von Albert Renger-Patzsch, dem wohl berühmtesten Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“, auch Fotografien, die der Verkäufer als „namenlosen Ramsch“ eingestuft hatte. Als Autorin dieser Bilder, in die sich Geller ganz spontan „verliebte“, war eine ihm völlig unbekannte Fotografin ausgewiesen – eine falsche Zuordnung, wie sich später herausstellte. Der richtige Autor dieser Bilder war kein geringerer als Heinrich Hauser.
Einige Zeit später bietet ihm derselbe Verkäufer weitere Fotos der unbekannten Fotografin an, und so kommt Geller quasi durch die Hintertür in den Besitz des nahezu kompletten Archivs des Folkwang-Auriga Verlags. Unter Leitung von Ernst Fuhrmann veröffentlicht dieser neben Geller auch Bilder von Heinrich Hauser, darunter einen Meilenstein des deutschen Fotojournalismus: die Reportage SCHWARZES REVIER, Resultat einer 1928 unternommenen Reise quer durch das Ruhrgebiet, bei der Hauser mit dem Auto angeblich 6000 Kilometer zurücklegt.
Kein anderer sah die Welt der 20er und 30er Jahre so eindringlich, so intensiv und so innovativ wie Heinrich Hauser.
Gellers Fund mündet in eine Ausstellung in der Hamburger Grauwert Galerie, die vom 19. April bis 28. August 2002 zu sehen ist, und kommt dann ins Folkwang Museum nach Essen. [14]
Weitere Museen, die Hauser-Bilder in ihrem Archiv haben, sind The J. Paul Getty Museum in Malibu, das Musée d’Orsay in Paris, The Art Institute in Chicago.
„Erschütternd sind die Bilder von den Bewohnern Chicagos, von den Armen und Armsten, von den Erwerbslosen und Arbeitssuchenden, die in langen Reihen und Gruppen herumstehen und vor den Agenturen warten. Hier ist Hausers Bericht unversehens weniger ein Bild Chicagos als ein Bild unserer Zeit.“
BERLINER BÖRSEN COURIER
Heinrich Hauser und Hubert Schonger
WELTSTADT IN FLEGELJAHREN. EIN BERICHT ÜBER CHICAGO ist nicht nur die Geschichte einer großen Stadt, sondern auch die Geschichte zweier Männer, die einiges trennt, die aber doch verwandte Seelen sind. Und sehr viel von diesem Film wird erst verständlich aus der Biographie dieser Persönlichkeiten. Der eine, Heinrich Hauser, ist ein Abenteurer. Es zieht ihn, den Unsteten, oft hinaus in die Ferne. Er schreibt Bücher und Feuilletons, er fotografiert und er filmt. Fotografie und Film – diese beiden Leidenschaften teilt er mit dem Naturfilmer und Produzenten Hubert Schonger. Und beide sind, nur einen Steinwurf voneinander entfernt, am Ammersee unweit von München begraben.
Hauser und Schonger kommen über den Dokumentarfilm DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE zusammen, den Hauser ursprünglich selbst verleiht. Vielleicht kennen sie sich sogar schon früher. 1931 jedenfalls übernimmt Hubert Schonger die SEGELSCHIFFE, die in verschiedenen Fassungen existieren, in seinen Vertrieb (Werner Adomatis schneidet aus dem Material für Schonger 1941 den Kurzfilm MÄNNER, MEER UND STÜRME).
Ein Preuße auf hoher See
Heinrich Hauser ist Weltreisender, Schriftsteller, Feuilletonist, Journalist, Redakteur, PR- und Zirkusmann, Technikexperte, Testfahrer, Seefahrer, Flieger, Arbeiter, Barmann, Farmer, Student, Autodidakt, Fotograf und Dokumentarfilmer, Exilant – und ständig auf der Flucht: vor familiären Problemen, vor seinen Schulden, vor einem bürgerlichen Leben, aber er hat, im Gegensatz zu den meisten, wenigstens den Mut, ins Ungewisse zu fliehen. Würde er heute leben, wäre dieser bedeutende Vertreter der Neuen Sachlichkeit gewiss ein multimediales Genie.
Hauser kommt am 27. August 1901 in Berlin zur Welt. Er bezeichnet sich stets als Preußen. So steht es in seinem Geburtsschein. Er grenzt sich vom Deutschen ab. Sein Vater ist Arzt und zu Beginn des „Großen Krieges“ – wie er damals heißt – Rittmeister der Landwehr. Die Mutter entstammt dem dänischen Adel, ist musisch begabt, nach ihrer Scheidung Geigerin im Orchester des Staatstheaters Weimar und Schülerin von Rudolf Steiner. Heinrich lebt bei ihr und besucht das humanistische Gymnasium in Weimar. Vater und Sohn verstehen sich nicht, und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Sein Vater ist sieben Mal verheiratet. Heinrich selbst bringt es auf fünf Ehen.
Sehr früh beginnt sich Heinrich für Maschinen, Technik, Flugzeuge und Automobile zu interessieren. Gleichzeitig fühlt er sich von der Natur angezogen. Dieser Widerspruch bestimmt sein Werk. Er löst sich auf See auf, und in der Luft, wo Natur und Technik so etwas wie eine Symbiose eingehen.
Als 17-Jähriger wird Hauser Seekadett in der Kaiserlichen Marine und tritt nach der Novemberrevolution in das Freikorps Maercker ein, welches zum Schutz der Nationalversammlung in Weimar eingesetzt wird. Ein Praktikum bei den Krupp-Werken in Essen, das ihn zum Ingenieurstudium befähigen soll, muss er nach einem Arbeitsunfall im Sommer 1919 abbrechen: er stürzt von einer Eisenbahnbrücke, liegt sechs Wochen im Krankenhaus, aber die Verbindung zur Technik bleibt intakt. In Wilhelmshaven, als Unteroffizier auf einem Torpedoboot der „Eisernen Flottille“, erlebt er den Kapp-Putsch. Wieder an Land, schlägt er sich durch, nimmt Gelegenheitsjobs an. Dann rafft er sich auf, beginnt im Oktober 1920 ein Medizinstudium in Jena, bricht es ab, wechselt im Januar 1922 an die Universität Rostock, aber er kann nicht stillsitzen. Er hält sich in verschiedenen Städten auf, versackt immer mehr, kommt unter die Räder. Er stiehlt aus reiner Not. Es zieht ihn hinaus in die Welt. Er muss weg, raus. Er heuert als Leichtmatrose auf dem Frachter „Hannover“ an. Die Fahrt geht nach Schweden, nach Afrika und im November 1922 nach Australien, wo er den Winter und das Frühjahr verbringt. Auf diese Weise beginnt seine lebenslange Flucht, und sie hat nie aufgehört. Mit einem anderen Frachter kehrt Hauser im Sommer 1923 nach Deutschland zurück.
Zurück an Land ist er wieder ziellos, probiert verschiedene Dinge, assistiert zum ersten Mal bei Filmaufnahmen, acht Tage lang. Im Kreis des Malers Walter Spies lernt er den Autor Jürgen von der Wense kennen und beginnt sich für die Schriftstellerei zu interessieren: „Jetzt werde ich schreiben. Wunderbar ist es, zu schreiben, so dass man selber es nicht sieht, geheimnisvoll Zeile um Zeile abzutasten mit der Breite des Fingers…“
Der Däne Johannes Vilhelm Jensen, ein späterer Kollege und Freund bei der Frankfurter Zeitung, Literatur-Nobelpreisträger von 1944, bemerkt: „Zwei Dinge scheinen sich in Heinrich Hausers Person vereinigt zu haben: Die Fähigkeit zu schreiben und die Fähigkeit, sich Stoff zu verschaffen.“ In Thematik und Ausdruckskraft wird Hauser deshalb gelegentlich mit den ganz großen Erlebnisschilderern, mit Jack London und Joseph Conrad verglichen. Für Hauser ist das Schreiben wie Musizieren: „Habe Papier eingespannt und alle zehn Finger auf die Tasten gelegt. Es ist wie in der Kirche, wenn der Organist die Hände ausspreizt auf der Klaviatur: es dauert eine ganze Weile, bis das Präludium ertönt.“
Hauser ist musisch im Sehen: ein Augenmensch.
Spies, mit dessen Schwester, einer Berliner Primaballerina, Hauser eine Zeitlang liiert ist, ist ein Freund des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau und bei den Dreharbeiten von NOSFERATU mit dabei. Hauser schließt sich Spies an, und gemeinsam reisen sie nach Java. Spies bleibt auf Java und lässt sich später auf Bali nieder. Er kommt während des Zweiten Weltkriegs durch eine japanische Fliegerbombe um. Hauser kehrt im Januar 1924 von Java und Indien nach Deutschland zurück. Im Mai bewirbt er sich bei einer Berliner Abendzeitung und wird nach Südamerika geschickt. In Batavia erkrankt er an Malaria. Im Oktober kehrt er zurück. Über einen Feuilletonbeitrag kommt er eine Zeitlang beim Zirkus Sarrasani unter, leitet dort, was sie schamvoll „literarische Abteilung“ nennen, und etwas später, aber konkreter die Verwaltung,
Hauser beginnt auf seinen Reisen, während er oft jede Menge Jobs ausübt, Geschichten zu sammeln. Seine Erlebnisse bilden den Grundstock für Reisebücher, Reportagen und Romane. 1929 wird Hauser für seinen Roman BRACKWASSER mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet.
Chronist der Weltwirtschaftskrise und der Machtergreifung
Kurz vor und während der Weltwirtschaftskrise entwickelt Hauser eine ungeheure Aktivität. Es wird die künstlerisch produktivste Zeit seines Lebens. Im Auftrag des S. Fischer Verlags, Mai bis August 1929, reist er nach Westindien und schreibt weiter Reiseberichte. (Die Verbindung mit Fischer geht 1933 zu Bruch, als er mehr oder minder seinem Auftragswerk MANN LERNT FLIEGEN eine Widmung für Hermann Göring voranstellt.) Hauser wechselt zu Eugen Diederichs, schreibt querbeet für Zeitungen und Magazine: Die Tat, die Frankfurter Zeitung, die Neue Rundschau, die Berliner Illustrirte, Die Woche, aber auch für Otto Strassers Schwarze Front.
Er reicht Patente ein, unternimmt eine strapaziöse Ostpreußen-Reise, mit Zug, Auto, Fahrrad, Boot, zu Fuß. Er wird viel gelesen – und kann sich doch nur mühsam über Wasser halten.
Als die Nazis an die Macht kommen, will er sich aus allem raushalten und kann es doch nicht. Er schreibt über die Beisetzung Hindenburgs im Tannenberg-Denkmal, geht auf Distanz zu Hitler, weil der nicht dem letzten Willen des greisen Reichspräsidenten gefolgt ist, ihn auf Gut Neudeck zu bestatten, sondern ihm ein „Nationaldenkmal“ gesetzt hat. Hauser spricht von „geistiger Emigration“. Er will über neutrale Themen aus der Industrie schreiben. Er wird Testfahrer für die Adam Opel AG und schreibt über Automobile.
Hitler versus Germany
1936 reist Hauser ein zweites Mal nach Australien, mit dem Segelschiff „Pamir“. Er schreibt ein Buch über die Fahrt. 1937 verlässt seine dritte (wie die zweite jüdische) Ehefrau Ursula Deutschland und geht in die USA, die beiden Kinder, Tochter und Sohn, folgen ein Jahr später. Hauser hält sich, über Kanada kommend, eine Zeitlang in New York auf, geht für eine Reportage des Magazins Fortune dann doch noch einmal nach Deutschland. Angewidert von den Novemberpogromen und vorgewarnt durch die Zuspitzung der „tschechischen Frage“, wegen kritischer Äußerungen über das Vorgehen gegen Juden vor die Gestapo zitiert, verschafft er sich über Leute, die er bei Lloyd’s kennt, ein Schiffsticket in die USA. Vor der Abreise begegnet er zufällig seinem Vater. Die beiden sprechen nicht miteinander. Das ist im März 1939.
Hausers Fortune-Reportage erscheint auch als Buch: BATTLE AGAINST TIME: A SURVEY OF THE GERMANY OF 1939 FROM THE INSIDE. In einer zweiten Auflage wird das Buch 1940 unter dem Titel HITLER VERSUS GERMANY veröffentlicht.
In den USA setzt Hauser seine schriftstellerische Tätigkeit fort. Er lebt zuerst in Greenwich Village, dann auf einer Farm 60 Meilen westlich von Albany. Er muss jede Arbeit annehmen. Er schreibt, unter dem Pseudonym Alexander Blade, Science-Fiction-Stories für die Amazing Stories und gehört bald zu den profilierten Vertretern dieser von der etablierten Literaturkritik wenig geachteten, von ihm selbst sehr geschätzten Literaturgattung. (Den Durchbruch der utopischen Literatur auf dem amerikanischen Markt hat er nicht mehr erlebt.) Er betätigt sich als Ghostwriter, übersetzt, hält Vorträge vornehmlich auf High-School-Abschlussfeiern. 1941 heiratet er ein viertes, 1945, wenige Monate nach Kriegsende, ein letztes Mal. Im November 1948 verkaufen er und seine Frau Rita die „beweglichen Gegenstände“ der Farm auf einer Auktion. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft im Nachkriegsdeutschland.
Das Schicksal eines Remigranten
Ende 1948 treffen sie in der deutschen Trümmerlandschaft ein. Hauser will auch nach seiner kranken Mutter sehen. Henri Nannen, der ihn noch aus der Zeit vor dem Krieg kennt, holt ihn als Chefredakteur zum STERN, der damals noch in Duisburg sitzt. Doch die beiden impulsiven Charaktere kommen nicht gut miteinander aus. Hauser gehört der Redaktion nur vier Monate, bis Mai 1949, an.
Er findet sich anfangs im Nachkriegsdeutschland nicht zurecht, dann endlich kann er wieder für die Industrie arbeiten und in der Werbebranche texten. Er ist auch für Rowohlt tätig, schreibt Dokumentationen. Im Juli 1954 unterzeichnet er einen Jahresvertrag als freier Mitarbeiter bei Siemens, beteiligt sich dort an einem Filmprojekt, möglicherweise dem erst 1959 fertiggestellten Dokumentarfilm IMPULS UNSERER ZEIT. Doch das entbehrungsreiche Leben zehrt an seinen Kräften: Alkohol, seit seiner Matrosenzeit reichlich konsumiert, Zigaretten, zu wenig Schlaf. Die Kräfte schwinden. Er will sich von seiner Frau trennen, aber die erkrankt an Krebs. Hauser ist überzeugt, dass sie noch vor ihm stirbt. Er ist verzweifelt, schwer depressiv.
Er wird nur 53 Jahre alt. Heinrich Hauser stirbt am 25. März 1955 in Dießen am Ammersee. Sehr gut möglich, dass er durch Schonger an den Ammersee gekommen ist. Seine Frau überlebt ihn um sechs Jahre.
Posthum erscheint als Leihbuch im Gebrüder Weiß Verlag Berlin, später bei Goldmann sein utopischer Roman GIGANT GEHIRN, der den Prozess, der mit der Automatisierung begonnen wurde, weiterspinnt. Das Hirn des Titels ist ein Supercomputer, der über eine Kapazität von 2500 menschlichen Gehirnen verfügt. Das Elektronenhirn hat nicht nur einen autonomen Intellekt, sondern auch Charakter und strebt eine Diktatur an.
Sein ganzes Leben, schreibt Grith Graebner in ihrer Dissertation über Hauser, habe er an der Hypothek seiner Kindheit und Jugend getragen, die ihn zu einem Einzelgänger, einem sehr schwierigen, cholerischen, aber auch labilen Charakter mit einem oft sehr ambivalenten Verhalten werden ließ, der Menschen seiner Umgebung schnell verletzen, aber auch zu einem guten Freund werden konnte. [15]
FÜNF EHEN, VIELE BERUFE UND EIN RASTLOSER BERICHT, überschrieb die FAZ im Feuilleton einen Artikel über Hauser: Er sei hyperaktiv gewesen, ein von seinen Visionen Getriebener, immer auf der Suche nach neuen Fahrzeugen und Frauen, nach einem Halt im Strudel der Zeit. Mit Mitte Zwanzig hatte er schon so viele verschiedene Berufe ausgeübt, dass die Angaben zeitgenössischer junger Autoren dagegen verblassen: Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile. Er war Student und Schmuggler, See- und Ehemann, bevor er 1925 den Erfahrungsüberschuss ausschlachtete und anfing, Feuilletons über den „Organismus eines Lastkraftwagens“ oder den „Gesang der Presslufthämmer“ für die „Frankfurter Zeitung“ zu schreiben und an seinem ersten, noch stark vom Expressionismus geprägten Jugendbeziehungsdrama „Das zwanzigste Jahr“ zu arbeiten. Literarisch und politisch schwer einzuordnen, erneuerte er die deutsche Sprache und spaltete die Geister. [16|
Hausers Leben ist spannend wie ein Film. Hausers Leben ist ein Film. Und er hat ja mehrere Filme gedreht.
Der Dokumentarfilmer
Im Auftrag der Frankfurter Zeitung reist Heinrich Hauser mit seiner zweiten Frau nach Irland und trifft den Schriftsteller Liam O’Flaherty. Auf einer zweiten Irland-Tour begleiten sie O’Flaherty auf die Aran-Inseln und drehen dort 1928 einen 18-minütigen Film: MAN OF ARAN. Diese Arbeit wird später mit Robert Flahertys Film gleichen Titels aus dem Jahr 1934 verwechselt, aber dann wird ein Fragment des verschollen geglaubten Hauser-Films gefunden.
Im Auftrag der Reederei F. Laeisz unternimmt Hauser 1930 eine Fahrt auf der „Pamir“. Sie führt von Hamburg nach Chile und dauert 110 Tage. Während der Fahrt erstellt er ein „Medienpaket“ aus Reisetagebuch, Fotografien und Film: DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE.
Auch WELTSTADT IN FLEGELJAHREN entsteht im Zuge einer Reisereportage, für die Hauser Amerika mit einem Ford bereist: FELDWEGE NACH CHICAGO (S. Fischer).
1961 wird sein Migranten-Roman BRACKWASSER unter dem Titel BIS ZUM ENDE ALLER TAGE für das Kino verfilmt. Der Produzent ist ein anderer Remigrant: Seymour Nebenzahl. Nebenzahl hatte vor 1933 Brechts 3-GROSCHEN-OPER sowie Fritz Langs M und das nach Fertigstellung von Goebbels verbotene TESTAMENT DES DR. MABUSE produziert:
Mit einem Seitenblick auf den Publikumserfolg von Suzie Wong hat Franz-Peter Wirth jetzt die Geschichte des Tanzmädchens Anna Suh nach Hausers Roman „Brackwasser“ verfilmt. Die Chinesin, von der bezaubernden Japanerin Akiko mit stillem Charme sehr überzeugend dargestellt, verliebt sich in einen Seemann, der sie auf seine heimatliche Nordseeinsel bringt. Zwischen Rumgrog, Dorftratsch und rauhen Winden gedeiht die „asiatische Blume“ so schlecht, dass sie den feindlichen Insulanern den Rücken kehrt und nach St. Pauli zieht. Da muss der Seemann seiner schlitzäugigen [sic!] Gemahlin mit wilder Entschlossenheit nachreisen, um ein gekünsteltes, der deutschen Geschmacksrichtung entsprechendes Happy-End zu erzwingen. [17]
Neben Akiko Wakabayashi, die durch ihre Mitwirkung in Ishiro Hondas utopischen Kaiju-Monsterfilmen und in dem James-Bond-Film YOU ONLY LIVE TWICE bekannt wird, spielen Helmut Griem, Hanns Lothar, Ursula Lillig, Eva Pflug und Carl Lange.
„Dies ist die schönste Stadt der Welt: ein technischer Traum in Aluminium, Glas, Stahl, Zement und künstlichen Sonnen, fremdartig wie ein anderer Stern.“
Heinrich Hauser, Feldwege nach Chicago, 1931
Hubert Schonger, Natur- und Märchenfilmer
Hubert Schonger, am 19. Oktober 1897 in Bachhagel, Landkreis Dillingen an der Donau geboren, beginnt nach dem Ersten Weltkrieg ein Ingenieur-Studium, ähnlich wie es Hauser vorgehabt hat. Schonger reizt jedoch die Natur. Mit seiner Kamera fotografiert er Vögel, und aus dem Fotografieren wird eine Leidenschaft und ein Leben für den Film. 1923 gründet er in Berlin die Firma Naturfilm Hubert Schonger und bringt die Dokumentation MELLUM, DAS VOGELPARADIES IN DER NORDSEE heraus.
Die kleine Firma, die alsbald mit einem kleinen Mitarbeiterstab arbeitet, produziert und vertreibt Natur-, Kultur- und Städtefilme, nimmt auch Robert Flahertys großen Dokumentarfilm in Spielfilmlänge, NANOOK OF THE NORTH [NANUK DER ESKIMO], in den deutschen Verleih. 1930 produziert Schonger seinen ersten Spielfilm. Er heißt LOHNBUCHHALTER KREMKE und ist einer der letzten in Deutschland hergestellten Stummfilme. Hermann Vallentin spielt einen Büromenschen, der aufgrund von Spar- und Rationalisierungsmaßnahmen entlassen wird. Sein Weltbild bricht zusammen. Kremke begeht Selbstmord. Regie führt eine Frau: Marie Harder, die den Film- und Lichtbilddienst der SPD leitet und vom russischen Revolutionsfilm beeinflusst ist. Harder kommt 1936 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Anna Sten aus Kiew, wenig später von Sam Goldwyn nach Hollywood verpflichtet, spielt die weibliche Hauptrolle. In weiteren Rollen der russisch-ukrainische Schauspieler Kowal-Samborski, die Kinderdarstellerin Inge Landgut, die wenig später an der Seite von Peter Lorre in M zu sehen sein wird, und Wolfgang Zilzer, der in der Emigration kleine und kleinste Rollen spielen wird (in NINOTCHKA, TO BE OR NOT TO BE, INVISIBLE AGENT und CASABLANCA).
1936 trifft Schonger mit Willy Wohlrabe, dem Inhaber des Jugendfilm-Verleihs, der wie Naturfilm seine Büros am Anhalter Banhnof in Berlin hat, eine Vereinbarung über die Herstellung von Märchen- und Kinderfilmen. Er ist nach Alf Zengerling der zweite deutsche Produzent, der konsequent diese Nische besetzt, und das macht Sinn. Im November 1936 hat der Vorstand der Ufa die Verfilmung von Engelbert Humperdincks Kinderoper HÄNSEL UND GRETEL erwogen, aber angesichts der nicht geringen Herstellungskosten „nur beschränkte Auswertungsmöglichkeiten“ in Kinder- und Jugendmatinéen gesehen. Der Beschluss wird aufgeschoben, das Projekt nie realisiert. Grund genug für Kleinproduzenten, sich auf Märchen einzulassen, die im Gegensatz zu den hochfliegenden Ufa-Plänen preiswerter hergestellt sind. So ist es Hubert Schonger vorbehalten, dessen erste Märchenfilme TISCHLEIN DECK DICH, ESEL STRECK DICH, KNÜPPEL AUS DEM SACK, SCHNEEWEISSCHEN UND ROSENROT, BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN und DIE HEINZELMÄNNCHEN sind, 1940 die erste deutsche Tonfilmfassung von HÄNSEL UND GRETEL zu produzieren, ohne Humperdinck und vergleichsweise unaufwändig. Dennoch: Die Adaption enttäuscht in der Ausstattung nicht. [18] Noch geht Schonger für diese Filme nicht in die freie Natur, sondern lässt sie unter kontrollierten Arbeitsbedingungen im Atelier in der Berliner Lindenstraße entstehen, das früher einmal von der Vitascope und jetzt von einer Tochtergesellschaft der Tobis betrieben wird.
Sein größter Coup kommt, als klar wird, dass Disneys Technicolor-SNOW WHITE AND SEVEN DWARFS (1937) nach langem Tauziehen um Preis und Devisen zwischen Ufa und Bavaria nicht im Deutschen Reich laufen wird. Da stellt Schonger kurzentschlossen eine preiswerte, schwarzweiße Realfilm-Version des Märchens her und annonciert sie in der Branchenpresse als „Bombenerfolg“. Die Zwerge werden von kleinwüchsigen Männern gespielt. Diese „echten Liliputaner“ werden, wie man in der Presse liest, von der Berliner Scala für die Filmaufnahmen ausgeliehen. Ihre Gesangs- und Tanzeinlagen mildern die grausame Handlung des Grimmschen Märchens ab.
Gelegentlich schreibt Schonger auch selbst das Manuskript und führt Regie. Der ambitionierteste seiner frühen Märchenfilme ist das von ihm inszenierte TAPFERE SCHNEIDERLEIN (1942), das auch nach dem Krieg noch erfolgreich in Kindervorstellungen läuft. Hans Hessling spielt den kleinen Schneider, der sich, nachdem er sieben Fliegen erschlagen, mit einer Schärpe und der Aufschrift Sieben auf einen Streich brüstet. Dem Gewitzten gelingt es, zwei urzeitlich auftretende Riesen-Barbaren auszuschalten, die die Gegend unsicher machen, und auf Wunsch des Königs und seiner hinterhältigen Räte zieht er auch noch gegen das Einhorn und ein übles Wildschwein. Als Lohn erhält er die Hand der Prinzessin und das halbe Königreich. Der Komponist des Films, der Dirigent und Pianist Rio Gebhardt, überlebt den Krieg nicht. Er fällt am 24. Juni 1944 an der Ostfront.
1947 zieht Schongers Firma nach Inning an den Ammersee. Hier entsteht ein kleiner Studiobetrieb, eine Scheune wird als Atelier hergerichtet. Aber nicht nur im Studio entstehen die Filme. Im Gegensatz zu den Berliner Produktionen gibt es viele Außenaufnahmen. Die herrliche Berg- und Seenlandschaft der Umgebung wird bald als Kulisse in Agfacolor-Remakes der frühen Filme genutzt.
Aus Naturfilm Hubert Schonger wird mit Schongerfilm ein stark diversifiziertes kleines Unternehmen mit verschiedenen Geschäftszweigen, die im Grunde alle Bereiche des Filmschaffens abdecken. Es gibt kaum einen Zweig, in dem sich Hubert Schonger nicht ausprobiert hat. Er produziert nicht nur Kinder-, Jugend- und Märchenfilme – bis ihm die Freiwillige Selbstkontrolle mit einer Altersfreigabe nicht ab 0, sondern ab 6 Jahren einen Strich durch die Rechnung macht und ihm einen großen Teil des Publikums nimmt. Sein schönster Märchen-Farbfilm, RÜBEZAHL, HERR DER BERGE (1957) mit Franz Essel in der Titelrolle, ist auch einer der letzten.
Schonger stellt auch weiter Spielfilme her, in der Regel Berg- und Heimatfilme: 1948/49 BERGKRISTALL unter der Regie von Harald Reinl, 1957 ZWEI MATROSEN AUF DER ALM mit Anita Gutwell, Helmuth Schneider, Barbara Gallauner, Hans Nielsen und Liesl Karlstadt, 1959 O DIESE BAYERN mit Liesl Karlstadt, Jürgen von Alten und Rudolf Vogel sowie HUBERTSJAGD mit Willy Fritsch, Wolf Albach-Retty, Angelika Meissner, Lucie Englisch (die in Schongers letztem großen Märchenfilm die FRAU HOLLE spielt). 1967 folgt TANJA; DIE NACKTE VON DER TEUFELSINSEL.
Er tauscht seine preisgekrönten Jugendfilme, die FRANZL-Filme zum Beispiel, mit Rank in England aus, betreibt eine Zeitlang mit Heinz Tischmeyer ein Zeichenfilmatelier in Tutzing, gründet unter seinem Namen einen eigenen Filmverleih mit Kurt Hammer als Geschäftsführer. Der Schongerfilm Verleih bringt neue Produktionen wie DAS WUNDER VON FATIMA und Reinls HINTER KLOSTERMAUERN ebenso heraus wie alte Wildwestfilme und deutsche Reprisen (Karl Ritters HOCHZEITSREISE, DIE 3 CODONAS, Rühmanns FEUERZANGENBOWLE). Er kauft Filmlizenzen. Unter anderem erwirbt er Ingmar Bergmans JUNGFRUKÄLLAN, aber auch ein sehr kommerzielles Paket von utopischen und Gruselfilmen der American International Pictures, darunter Roger Cormans HOUSE OF USHER und die Jules-Verne-Verfilmung MASTER OF THE WORLD, beide mit Vincent Price, die er unter der Leitung von Ingo Hermes in eigener Synchron-Produktion „eindeutschen“ lässt. Auch Ausschnittfassungen seiner Filme in 8mm für das Heimkino wertet er aus. Für den Westdeutschen Rundfunk in Köln entsteht unter der Regie von Peter Podehl (in Zusammenarbeit mit Schongers Sohn Ulrich) die sechsteilige Nachmittagsserie DIE HÖHLENKINDER.
In dem von Schonger über die Jahre angekauften Material befinden sich auch 20.000 Meter Schnittreste von F. W. Murnaus Südseefilm TABU. Die große Filmhistorikerin Lotte H. Eisner berichtet darüber in ihrem Murnau-Buch: Hubert Schonger hat zur Zeit aus Graz eine Unzahl von Filmrollen bekommen können, von denen mir seinerzeit Murnaus Bruder Robert sprach. […] Bei der Durchsicht der Streifen im Hause Hubert Schongers habe ich sehen können, dass der Vermerk INSEL DER GLÜCKLICHEN von Robert Plumpe stammt, der aus den vorhandenen Mustern von TABU und einem sehr schönen, in den Film nicht aufgenommenen Fischzug – Insulaner schlagen hier das Meer mit Zweigen, um Fische ins Netz zu treiben – einen neuen Film herzustellen geplant hatte. [19] Schonger schnitt daraus den Kulturfilm REISE ZU DEN GLÜCKLICHEN INSELN, der 1968 erschien.
Mit Auflösung des eigenen Verleihs lässt Schonger seine Lizenzen vor allem durch Gerhard Goldammers Goldeck-Film-Verleih in Frankfurt und durch den Mercator-Filmverleih in Bielefeld auswerten, dem mit Bodo Gaus als Geschäftsführer ein ehemaliger Vertreter des Schongerfilm Verleihs vorsteht.
Hubert Schonger fördert auch junge Filmemacher wie Marran Gosov (die Kurzfilme DAS DENKMAL, ANTIQUITÄTEN), Klaus Lemke (der Kurzfilm HENKER TOM mit Werner Enke) und Peter Fleischmann (der Kurzfilm DIE EINTAGSFLIEGE; HERBST DER GAMMLER, ein langer Dokumentarfilm).
1972, nach einem halben, arbeitsreichen Jahrhundert, zieht sich Hubert Schonger aus dem aktiven Geschäftsleben zurück. Er stirbt am 21. Februar 1978 in Inning.
Zur Musik
Die neue Musik von Andy Miles für Orchester und einen satten Bläsersatz ist im Stil des traditionellen Chicago-Jazz angelegt und erweitert im Lauf des Films dieses Klangspektrum zum Modern Jazz. Damit schlägt die Musik die Brücke zwischen der Entstehungszeit des Films zu Beginn der 1930er Jahre und heute, sie akzentuiert die Montage, reagiert auf verborgene Details und unterstreicht die Modernität von Heinrich Hausers Film, der mit genauem Blick die sozialen Gegensätze der Metropole Chicago und ihrer Menschen registriert. Es ist der Puls dieser boomenden Stadt, einer Stadt voller Gegensätze und großer Versprechen, den die Musik wieder hörbar und erlebbar macht.
Andy Miles, Komponist
Andy Miles studierte klassische Klarinette in Bremen und Hannover, u. a. bei Prof. H. Pallushek. Als einer der jüngsten Klarinettisten wurde er 1991 Soloklarinettist der Hamburger Philharmoniker. Später wechselte er nach Köln an die Soloposition des WDR Funkhausorchesters Köln.
Neben seiner Tätigkeit im WDR Funkhausorchester tritt Andy Miles sowohl in Kammermusik-Formationen wie auch solistisch international auf und spielt mit Orchestern wie den Duisburger Philharmonikern, dem Kammerorchester St. Petersburg, der Slowakischen Sinfonietta, dem Izmir State Symphony Orchestra oder den Peking Symphony Orchestra. Immer wieder sprengt er musikalische Grenzen. Seine Vergangenheit als Saxophonist in Rockbands, als Tinwhistlespieler in Folkbands, als Klarinettist in diversen Jazzformationen und nicht zuletzt als Soloklarinettist in traditionellen Orchestern ermöglicht ihm, sich in verschiedensten Musikgattungen zu bewegen.
Die Restaurierung
Das für die Restaurierung vorliegende Ausgangsmaterial wies starke und durchgehende produktions- und altersbedingte Schäden auf. Diese Schäden umfassten sowohl die physikalischen Eigenschaften des Filmmaterials (wie z.B. Oberflächen und Schichtverletzungen) wie auch Beeinträchtigungen durch chemische Prozesse, die sich im Zuge der jahrzehntelangen Lagerung des Filmmaterials vollzogen.
Ziel der Restaurierung war es, eine unter heutigen Gesichtspunkten hochwertige restaurierte Fassung des Materials herzustellen, ohne dass dabei der altersbedingte Charme und Charakter der Produktion verloren geht. Dort, wo Restaurierungs-Eingriffe das Material zu sehr verändert hätten, wurde auf weitere Korrekturen verzichtet, um näher am Original zu bleiben.
Die digitale Restaurierung wurde mit Korrekturen des Bildstandes und der Bildgeometrie begonnen, d.h. dem z.T. sehr unruhigen Bildstand wurde soweit möglich durch verschiedene Bildstabilisierungsverfahren entgegengewirkt. Geometrische Verzerrungen die sich innerhalb eines Bildes oder auch zwischen aufeinanderfolgenden Bildern zeigten, wurden durch manuelle Retuschen korrigiert.
In einem nächsten großen Arbeitsschritt wurde das deutliche Kornrauschen reduziert, wobei szenenabhängig meist mehrere Durchgänge und Korrekturansätze von Nöten waren. Im Anschluss wurde das meist durchgehend sichtbare Luminanzflackern korrigiert, was bei dem vorliegenden Material die wohl größte Herausforderung darstellte. In den folgenden Arbeitsschritten wurden Schichtverletzungen und zahlreiche Filmschmutz-Mängel eliminiert, ein höchst zeitaufwendiger Prozess, der häufig nur durch hohen Einsatz händischer Korrekturen erfolgen konnte.
Den abschließenden Part der Bildrestaurierung stellte die Lichtbestimmung dar, also die Anpassung von Helligkeit und Kontrastverhalten der Bilder, um so deutlich mehr Details im Vergleich zum flauen Ausgangsmaterial sichtbar zu machen.
PICTURE LOOK, Mathias Bitz
Quellen
[1] new filmkritik, 30. November 2003, verfügbar unter: http://newfilmkritik.de/archiv(/2003-11/weltstadt-in-flegeljahren.ein-bericht-uber-chicago( [09.04.2001].
[→ zurück zur Textstelle]
[2] Der Film, Berlin, Nr. 40, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[3] Cap.: Ein Mann filmt Chicago. In: Vossische Zeitung. Berlin, Nr. 468, 4. Oktober 1931. Morgen-Ausgabe. 1. Beilage.
[→ zurück zur Textstelle]
[4] Dr. H.: Ein Reportage-Film: Weltstadt in Flegeljahren. In: LichtBildBühne, Nr. 237, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[5] Hans Taussig: Weltstadt in Flegeljahren. In: Reichsfilmblatt, Berlin, Nr. 40, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[6] Hans Feld: Weltstadt in Flegeljahren. In: Film-Kurier, Nr. 232, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[7] Oly [d.i. Fritz Olimsky]: Weltstadt in Flegeljahren. In: Berliner Börsen-Zeitung, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[8] K.W.: Weltstadt in Flegeljahren. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 403, 4. Oktober 1931, S. 12.
[→ zurück zur Textstelle]
[9] H.L.: „…nicht sein kann, was nicht sein darf“. In: Rote Fahne, Berlin, Nr. 213, 23. November 1931. Beilage.
[→ zurück zur Textstelle]
[10] Rudolf Arnheim: Paukerfilme. In: Die Weltbühne, Berlin, XXVII. Jg. 5, 2. Februar 1932, S. 185ff.
[→ zurück zur Textstelle]
[11] Filmische Ausgrabungen. In: taz, die tageszeitung, Hamburger Kulturkalender, 3. August 2000.
[→ zurück zur Textstelle]
[12] Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago. (Deutschland 1931) aufgenommen von Heinrich Hauser. Eine Dokumentation von Jeanpaul Goergen. Erscheint zur Wiederaufführung von Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago am 19. März 1995 in der Reihe „Film Montage Grosz“ Arsenal. Freunde der Deutschen Kinemathek e.V. Herausgeber: edition Goergen – 3, Berlin 1995.
[→ zurück zur Textstelle]
[13] Grith Graebner: „Dem Leben unter die Haut kriechen…“ Heinrich Hauser. Leben und Werk. Eine kritisch-biographische Werk-Bibliographie. Dissertation Universität Köln. Shaker Verlag, Aachen 2001, S. 185.
[→ zurück zur Textstelle]
[14] Kleinodien der Fotografie in Hamburg. www.hauser-heinrich.de/Pressetext.html
[→ zurück zur Textstelle]
[15] Grith Graebner: Heinrich Hauser. Leben und Werk, a.a.O., S. 384.
[→ zurück zur Textstelle]
[16] Frankfurter Allgemeine, 29. 01. 2006.
[→ zurück zur Textstelle]
[17] Hamburger Abendblatt, 30. August 1961.
[→ zurück zur Textstelle]
[18] Ron Schlesinger: Rotkäppchen im Dritten Reich. Die deutsche Märchenfilmproduktion zwischen 1933 und 1945. Ein Überblick. S. 73.
[→ zurück zur Textstelle]
[19] Lotte H. Eisner: Murnau. Frankfurt am Mai,n 1979, S. 219.
[→ zurück zur Textstelle]
Impressum
Redaktion Molto Menz
Design Christin Albert
absolut Medien, Am Hasenbergl 12, 83413 Fridolfing
Tel.: 030 285 39 87 0
Fax: 030 285 39 87 26
„Ein Film, den man unbedingt erlebt haben muß: Das ist die Illusion von Chicago, mit seiner Aktivität, Atmosphäre, Phantastik. Mit seinen krassen Gegensätzen, seinem rasenden Lebensrhythmus. Da gibt es Bilder von einer Eindringlichkeit, die in Erstaunen setzt. Einstellungen, die frappieren. Vorbildlich montiert, packend von Anfang bis zum Schluß!“
LICHTBILD BÜHNE 1931
Synopsis
CHICAGO – WELTSTADT IN FLEGELJAHREN steht in der Tradition so berühmter Städtefilme wie Walter Ruttmanns BERLIN, DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (1927), Michail Kaufmans MOSKAU (1927) oder Alberto Cavalcantis Paris-Film RIEN QUE LES HEURES (1926). Im Spannungsfeld zwischen Avantgarde und Kulturfilm, zwischen technischem Fortschritt und den Schattenseiten der Industrieproduktion behauptet sich Hausers Porträt als persönliche, sachliche und nüchterne Beschreibung der damals zweitgrößten amerikanischen Stadt. Die Menschen, die sie bevölkern, stehen im Zentrum. Hauser war der Neuen Sachlichkeit verpflichtet – und sich selbst. Hier erstmals die digital restaurierte Fassung mit der neu vom WDR Funkhausorchester eingespielten Musik von Andy Miles. Als zweiter Soundtrack findet sich die von Wilfried Reichart und Hans-Ulrich Werner eingerichtete Tonfassung mit Passagen aus Hausers Chicago-Buch mit nachempfundener Soundkulisse.
„Immer wieder ist das rein Bildmäßige dichterisch erfaßt. Das gleiche Panorama wird von einem Dutzend wechselnder Kamerastandpunkte eingefangen; und in der Veränderung schafft es die Summe der Eindrücke. Die Brücke als Vedute, die Zufälligkeit des Moment-Kurbelns noch instinktiv-ästhetisch ausgewogen: Das ist nicht Kunstgewerbe, sondern Kunstwerk.“
FILM KURIER 1931
Credits
Herstellungsjahr: 1931
Aufgenommen von Heinrich Hauser
Heinrich Hauser, Schriftsteller,
Berlin W 10, Herkulesufer 13
Produziert von Hubert Schonger
Hersteller und Vertrieb:
Naturfilm Hubert Schonger,
Berlin SW 11, Anhalter Straße 7
Länge: 5 Akte, 1687 m, 35mm, 1:1.33, schwarzweiß
Laufzeit: 65 Minuten (bei 20 B/Sek.) / 55 Minuten (bei 24 B/Sek.)
Zensur: 14. September 1931. Zur Vorführung auch vor Jugendlichen zugelassen.
Prüfnummer: B.29864
Pressevorstellung: Freitag, 2. Oktober 1931, Berlin (Kamera, Unter den Linden)
Uraufführung: Sonntag, 4. Oktober 1931, Berlin (Alhambra, Kurfürstendamm), als Matinée der Degeto und der Gesellschaft Urania.
Kinostart: 9. Oktober 1931, Berlin (Kamera, Unter den Linden)
Kopien (35 und 16mm) in der Sammlung Schongerfilm beim Bundesarchiv-Filmarchiv.
Holländische Verleihkopie des Centraal Bureau Ligafilms:
Vlegeljaren van een wereldstad
Aufführungsdaten: 14. September 1931 bis 12. November 1931
Ein vergessenes Meisterwerk des internationalen Dokumentarfilms
Der Deutsche Heinrich Hauser, 1901 laut Geburtsschein in Preußen geboren, drehte in Chicago lange, bevor es Hollywood tat. Sein Film kommt ohne Stars aus: keine impressionistische Studie, kein experimentelles Städtepoem, kein touristischer Reisefilm, keine gestellten Aufnahmen, schon gar nicht einer der gängigen Kulturfilme. Die Stadt selbst und die Menschen, die sie bevölkern, stehen im Zentrum. Hauser war der Neuen Sachlichkeit verpflichtet – und sich selbst.
Ein Leben – spannend wie ein Film
Heinrich Hauser war vielleicht der letzte große Selfmademan, den Deutschland hervorgebracht hat. Er war einer, der über den Tellerrand der deutschen Provinz hinaussah. Er war Schriftsteller, sein Roman BRACKWASSER wurde 1928 mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet und nach seinem Tod verfilmt, Journalist, für vier Monate Chefredakteur des STERN, Feuilletonist, er schrieb Science Fiction, war Fotograf, Filmemacher zu einer Zeit, als der Begriff nicht sehr gebräuchlich war. Literarisch und politisch schwer einzuordnen, erneuerte er die deutsche Sprache und spaltete die Geister. Er musste nicht fabulieren, um zu seinen Stoffen zu kommen. Seine Stoffe kamen zu ihm. Er nahm sie aus dem Erlebten, aus dem Gesehenen. Schließlich war er mit seinen wachen Augen viel unterwegs in Deutschland und der Welt: Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, er war beim Zirkus und ständig auf der Flucht vor dem bürgerlichen Leben, ein Weltreisender, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile, Student, Schmuggler, See- und fünffacher Ehemann, Technikexperte, Automobil- und Flugnarr, Pilot und Testfahrer, Emigrant und Remigrant, Farmer in den USA, hyperaktiv, ein Rastloser, ein von seinen Visionen Getriebener, vielleicht fand nicht einmal sein Leben im März 1955 ein natürliches Ende: ein Abenteurer durch und durch wie sonst nur Jack London. Hausers Leben ist spannend wie ein Film. Hausers Leben ist ein Film. Und darum sind auch die wenigen Filme, die er gemacht hat, spannend und lohnen die Wiederentdeckung.
„Erschütternd sind die Bilder von den Bewohnern Chicagos, von den Armen und Armsten, von den Erwerbslosen und Arbeitssuchenden, die in langen Reihen und Gruppen herumstehen und vor den Agenturen warten. Hier ist Hausers Bericht unversehens weniger ein Bild Chicagos als ein Bild unserer Zeit.“
BERLINER BÖRSEN COURIER
„Als ich dachte, sie käme nie, da wuchs auf einmal die City vor mir auf. Ein Gewitter von blitzartigen, tollen Ausblicken… Ich tauchte ein in ein feierliches, hallendes Dröhnen. Die Stimme Chicagos.“
Heinrich Hauser, Feldwege nach Chicago, 1931
Filmstadt Chicago
Chicago, die Millionenstadt im US-Bundesstaat Illinois, am Südwestufer des Michigansees gelegen, diente häufig als Kulisse für Spielfilme. Obwohl es dort schon 1907 ein bekanntes Filmstudio gab, die Essanay Film Manufacturing Company, wo Wallace Beery, Francis X. Bushman, Gloria Swanson, Mitinhaber „Broncho Billy“ Anderson, Ben Turpin und Charles Chaplin filmten, entstanden die klassischen Filme, die wir gewöhnlich mit Chicago assoziieren, in Hollywood. In SCARFACE, THE FRONT PAGE und HIS GIRL FIRDAY war der Eindruck von Chicago nichts weiter als Studiokulisse. Erst später nutzte das Kino Original-Schauplätze: Der mit halbdokumentarischen Stilmitteln hergestellte CALL NORTHSIDE 777 war der erste Hollywoodfilm, der 1947, angeregt auch vom italienischen Neorealismus, on location in Chicago entstand. Die Abkehr vom traditionellen Studiofilm machte später Produktionen möglich wie THE UNTOUCHABLES, HOME ALONE, GROUNDHOG DAY, THE COLOR OF MONEY, OCEAN’S TWELVE, THE BLUES BROTHERS, THE DARK KNIGHT, TRANSFORMERS, ROAD TO PERDITION oder PUBLIC ENEMIES mit Johnny Depp. (Die Filmversion des Musicals CHICAGO allerdings entstand wiederum im Atelier in Hollywood.)
Der Schriftsteller und Fotograf Heinrich Hauser drehte in Chicago lange, bevor es Hollywood tat. Sein Film kommt auch ohne Stars aus. Die Stadt selbst und die Menschen, die sie bevölkern, stehen im Zentrum.
Magic Cities
Städte als Stars – das war die Idee der avantgardistischen Filmemacher der 1920er-Jahre.
Angeregt von einem Gedicht von Walt Whitman, drehten Charles Sheeler und sein Freund Paul Strand 1921 eine Liebeserklärung an New York, MANHATTA. Im Sommer 1926 schilderte Alberto Cavalcanti, ein gebürtiger Brasilianer, einige Stunden, Morgen bis Abend, in Paris in RIEN QUE LES HEURES [NICHTS ALS DIE ZEIT]. Im Vorspann hieß es: Dieser Film erzählt keine Geschichte. Er besteht nur aus einer Abfolge von Impressionen über die Vergänglichkeit der Zeit und will keineswegs die Synthese irgendeiner Stadt herausarbeiten. Der deutsche Experimentalfilmer Walter Ruttmann folgte ein Jahr später mit einem auf Film gebannten Tagesablauf von BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSSTADT. Edmund Meisel, der Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN „vertont“ hatte, schrieb die Begleitmusik. Ebenfalls 1927 erschien MOSKAU, den Dsiga Wertows Kameramann Michail Kaufman und Ilja Kopalin realisiert hatten. Nicht zu vergessen ein Semi-Dokumentarfilm, der vier Menschen einer Großstadt in den Mittelpunkt stellte: MENSCHEN AM SONNTAG, eine Gemeinschaftsarbeit, die Robert Siodmak, Edgar Ulmer, Billy Wilder und Kameramann Eugen Schüfftan 1929 im Berliner Grunewald und am Wannsee gedreht hatten.
Das Porträt der Stadt Chicago, das Hauser gezeichnet hat, steht ganz in der Tradition dieser Filme und ist doch ein ganz eigenständiges Werk: keine impressionistische Studie, kein experimentelles Städtepoem, kein touristischer Reisefilm, keine gestellten Aufnahmen, schon gar nicht einer der gängigen Kulturfilme. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN fällt aus dem Rahmen.
„Ein mutiger, entschlossener, photographisch charakteristischer Film mit sozialem Verantwortungsbewußtsein. Ein Film, den jeder Amerikaschwärmer vor der Überfahrt sehen sollte. Ein Fingerzeig auf das ‚Paradies Amerika‘“
DER FILM 1931
„Dies ist die schönste Stadt der Welt: ein technischer Traum in Aluminium, Glas, Stahl, Zement und künstlichen Sonnen, fremdartig wie ein anderer Stern.“
Heinrich Hauser, Feldwege nach Chicago, 1931
[→ zurück zur Textstelle]
Wie der Arbeiter wohnt
Ganz gleich, was die Kritiker schrieben: Er war fasziniert von Chicago. In seinem zum Film erschienenen Chicago-Buch beschreibt er die Metropole als „schönste Stadt der Welt“. Hauser folgt durchaus einem modernistischen, konstruktivistischen Trend. Seine Vision der Urbanität hat Stil und Größe. Dank der verkehrsgünstigen Lage an den Wassertransportwegen des Michigansees und des Chicago Rivers galt die Region schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als wichtiger Handelsposten. Nach dem Bau der Ost-West-Eisenbahnstrecke wurde sie das „Tor zum Westen“. Offiziell gegründet wurde Chicago am 12. August 1833. Vier Jahre später lebten dort 4200 Menschen. Als das Jahrhundert endete, waren es bereits über eine Million Einwohner. Entsprechend stiegen die Grundstückspreise. Um Grundflächen ökonomischer zu nutzen, ging der Trend beim Bauen in die Höhe. Chicago wurde eine Stadt der Skyscraper. Während der Prohibition war Chicago berüchtigt als Metropole der Mafia. Hauser kam nach Chicago auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Kurze Zeit, nachdem er seine Dreharbeiten beendet hatte, wurde Al Capone vor Gericht gestellt.
Was Hauser an Filmbildern aus Chicago mitbrachte, sei keiner der gezielten Rhythmisierungen, die sich zur Geschwindigkeit der Großstadt mimetisch oder konkurrierend verhalten, wie man es aus anderen Stadtfilmen der 1920er-Jahre kenne, schreibt Volker Pantenburg [1]: Zu keiner Zeit versuche er das städtische Geschehen seinen eigenen Prinzipien unterzuordnen. Eher lasse er sich mitnehmen von dem, was ihm ins Auge falle. Hauser, ganz der Fotograf, komponiert seine Bilder sorgsam, aber er oktroyiert ihnen in der Montage keinen Plot auf.
Zuerst einmal erkundet er nicht die Stadt selbst, die am Anfang Silhouette bleibt, sondern geht mit seiner Kamera in die Umgebung, aus der heraus Chicago als vergleichsweise junge Stadt in kurzer Zeit gewachsen ist.
Ganz klar sind drei Themenblöcke zu erkennen:
Am Anfang stehen Flusslandschaften, Baumwollfelder, Raddampfer.
Dann sehen wir das geschäftige Treiben der expandierenden Weltstadt, der automatisierten Fabriken und der Masse Mensch.
Schließlich dokumentiert Hauser – und hier merken wir, dass er nicht das Hohelied der Großstädte singt – die sozialen Schattenseiten des Lebens in Chicago. Er verklärt nicht, ganz im Gegenteil. Hauser kannte sehr wohl die gängigen Stadtfilme, seine Aufnahmen von Arbeits- und Obdachlosen verweisen auf Filme wie HUNGER IN WALDENBURG (1929) von Piel Jutzi und WIE DER ARBEITER WOHNT (1930) von Slatan Dudow. Die Depression fordert ihre Opfer: Hehler verhökern auf dem Trödelmarkt Diebesgut, Kinder spielen im Dreck. Hausers Kamerablick ist bei aller Sachlichkeit in diesen Momenten ein mitfühlender. Häufig genug lebte er selbst in materieller Not. Hauser begleitet den Hobo-Arzt, Anarchisten und Sozialreformer Ben Lewis Reitman (1879-1942), der zu den Arbeitern über das Thema Sowjetrussland spricht. Es ist die Kehrseite des American Dream, der wir in diesen Bildern begegnen, aber es geht nicht nur um das soziale Elend in den USA.
Allerdings ist das Interesse deutscher Künstler jener Jahre an Chicago schon auffällig. Dort spielte Brechts Frühwerk IM DICKICHT DER STÄDTE. Wahrscheinlich war Brecht Upton Sinclairs Chicago-Roman THE JUNGLE aus dem Jahr 1906 nicht unbekannt. Sinclair prangert auch die miserablen Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen der Stadt an. Brechts HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE ist kurz vor Hausers Film entstanden. Auch Hauser behandelt die Schlachthöfe kurz, aber prägnant. Er kontrastiert die Effizienz der Detroiter Autofabriken mit den Schlachthäusern Chicagos. Alles wird zum Fließband, auch der Mensch wird automatisiert. Eine weidende Schafherde ist nach einem der seltenen Zwischentitel 40 Minuten später zum Inhalt von Konservendosen verarbeitet. Hauser nimmt hier Georges Franjus LE SANG DES BÊTES von 1949 vorweg. Im deutschen Film des Jahres 1931 taucht die Stadt übrigens auch in PANIK IN CHICAGO von CALIGARI-Regisseur Dr. Robert Wiene auf, mit Olga Tschechowa in der Hauptrolle. Offensichtlich verdichteten sich in Chicago besonders augenfällig die Krise des Kapitalismus und die zunehmende Automatisierung, die im Menschen nur die Masse eines großen Getriebes sah. Dabei war Hauser alles andere als ein Technikfeind. „Die Technik“, schrieb er, „ist sicher etwas, was der Mensch überwinden muss. Aber man überwindet nicht, indem man flieht. Wir müssen durch die Technik hindurch und über sie hinaus, sie ist ein Fegefeuer, das uns prüft!“
Selten habe man im Film der Weimarer Republik schonungslosere und ehrlichere Bilder gesehen, findet der Filmhistoriker Jeanpaul Goergen, dem wir die Wiederentdeckung von WELTSTADT IN FLEGELJAHREN verdanken, zwar keinem verschollenen, aber einem zu Unrecht vergessenen Film.
„WELTSTADT IN FLEGELJARHEN umfaßt fünf Akte, die jeder ein Motivkomplex aufgreifen: der 1. Akt schildert das Leben auf und um den Mississippi , im 2. Akt dominiert das Thema des Verkehrs, der 3. Akt zeigt den Einsatz der Maschine in allen Bereichen der Produktion, der 4. Akt dokumentiert die Folgen der Technisierung und Modernisierung, während der letzte Akt mit den vielfältigen Freizeitvergnügungen der Großstadtbewohner versöhnlich endet.“
JEAN-PAUL GOERGEN 1995
[2] Der Film, Berlin, Nr. 40, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[3] Cap.: Ein Mann filmt Chicago. In: Vossische Zeitung. Berlin, Nr. 468, 4. Oktober 1931. Morgen-Ausgabe. 1. Beilage.
[→ zurück zur Textstelle]
[4] Dr. H.: Ein Reportage-Film: Weltstadt in Flegeljahren. In: LichtBildBühne, Nr. 237, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[5] Hans Taussig: Weltstadt in Flegeljahren. In: Reichsfilmblatt, Berlin, Nr. 40, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[6] Hans Feld: Weltstadt in Flegeljahren. In: Film-Kurier, Nr. 232, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[7] Oly [d.i. Fritz Olimsky]: Weltstadt in Flegeljahren. In: Berliner Börsen-Zeitung, 3. Oktober 1931.
[→ zurück zur Textstelle]
[8] K.W.: Weltstadt in Flegeljahren. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 403, 4. Oktober 1931, S. 12.
[→ zurück zur Textstelle]
[9] H.L.: „…nicht sein kann, was nicht sein darf“. In: Rote Fahne, Berlin, Nr. 213, 23. November 1931. Beilage.
[→ zurück zur Textstelle]
[10] Rudolf Arnheim: Paukerfilme. In: Die Weltbühne, Berlin, XXVII. Jg. 5, 2. Februar 1932, S. 185ff.
[→ zurück zur Textstelle]
Die Uraufführung
WELTSTADT IN FLEGELJAHREN war nicht für das normale Kinoprogramm vorgesehen, sondern für Matinéen und Sondervorstellungen. Die Uraufführung fand am 2. Oktober 1931 im Alhambra-Kino in Berlin im Rahmen einer neuartigen Kooperation statt, die verschiedene Berliner Kultureinrichtungen zur Förderung des guten und des Kulturfilms eingegangen waren. Die Degeto, die Deutsche Gesellschaft für Ton und Bild e.V., und die Gesellschaft Urania hatten sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen und zeigten an Sonntag-Vormittagen, jeweils um 11:30, in verschiedenen Berliner Stadtteilen ausgewählte kulturelle Filme.
Nach seiner Premiere lief WELTSTADT IN FLEGELJAHREN für kurze Zeit im mit 300 Sitzen vergleichsweise exklusiven Kino Kamera Unter den Linden, Berlins erstem Programmkino, das damals von der Gesellschaft für den Guten Film betrieben wurde.
Heinrich Hausers Film im Spiegel der zeitgenössischen Kritik
Die Resonanz auch unter namhaften Kritikern war seinerzeit sehr positiv. Rezensenten mehrerer Branchenblätter und Zeitungen äußerten sich anerkennend: Film-Kurier, LichtBildBühne, Reichsfilmblatt, Vossische Zeitung, Berliner Börsen-Courier, Börsen-Zeitung, Vorwärts. Was uns heute an Stilmitteln so vertraut erscheint, ist damals eine Pioniertat.
Wir erleben in letzter Zeit immer wieder, dass Nichtfachleute an Eindruckskraft ihrer filmischen Geschichte langjährige Routiniers weit übertreffen. So auch diesmal: der Schriftsteller Heinrich Hauser schuf auf einer Amerikareise einen Film, so ganz nebenbei scheinbar, aber mit beispielhafter Erfassung des Wesentlichen.
Chicago, New Yorks aufstrebende Konkurrenz, ist das Feld der Betrachtungen des Dichters. Ausgezeichnet schon der Titel: Was sind Flegeljahre anderes als jugendliche Unausgeglichenheit, der Beginn der Kämpfe zwischen jugendlicher Reinheit und den ersten Erfahrungen mit dem illusionslosen Leben! Chicago in der Pubertät: größer noch als in älteren Metropolen ist hier der Unterschied zwischen Reichtum und Elend, plötzlicher der Übergang von den Licht- zu den Schattenseiten des Lebens. Hauser hebt das mit scharfem Blick hervor: sein Chicago bringt die breiten Autostraßen, die schönen Reitwege und kühnen Fassaden finanzkräftiger Wolkenkratzer nur augenblicksweise als Kontrast zu jenen trüben Stadtteilen, wo das heulende Elend herrscht.
Zusammenfassend nennt Kurt London, von dem die Rezension stammt, WELTSTADT IN FLEGELJAHREN einen „Fingerzeig auf das ‚Paradies Amerika‘“. [2]
Als der Film später nach seiner Wiederentdeckung in Italien aufgeführt wurde, lief er unter dem unserer Meinung nach auch sehr treffenden Titel UNA METROPOLI IN EVOLUZIONE: RAPPORTO SU CHICAGO. Die Evolution einer Weltstadt. Hauser hat im Grunde einen Teil einer Evolutionsgeschichte gefilmt. Nur so wird der Film verständlich. Nur so offenbart er sich dem Zuschauer: Aus den Wassern heraus bohrt sich die Stadt, der Mensch bevölkert sie, die Automatisierung entledigt sich des Menschen. Hauser ist ein geduldiger Beobachter. Ob er einen Masterplan hatte, ob ihm dieser evolutionäre Prozess erst während der Arbeit oder später beim Schnitt aufgefallen ist, können wir heute allerdings nicht mehr sagen.
Es ist eher ein Unbehagen, eine Ahnung, die ihn treibt. Er kann nicht wegsehen von dem Elend, das die Weltwirtschaftskrise aufgerissen hat: wie überall Rekord-Arbeitslosigkeit, Armut, 40.000 Obdachlose, Verelendung, Alkoholismus, Kriminalität. Das hat nichts mehr zu tun mit der urbanen Romantik der Berlin-verklärenden SINFONIE DER GROSSSTADT von Ruttmann. In der Sinfonie der Maschinen wirken die Menschen oft wie Fremdkörper.
Der Schriftsteller Heinrich Hauser hat Amerika bereist und wie andere Leute einen Fotoapparat, so hat er eine Filmkamera mitgenommen. Er betrachtete durch das Objektiv Wolkenkratzer und zerlumpte Buden, Straßenschluchten, vollgepfropft mit Autos, und riesige Parkanlagen, in der Eichhörnchen der Hand des Menschen einen freiwilligen Besuch abstatten. Er filmte den Mississippi und die laufenden Bänder in den Fabriken, einen Raddampfer und eine Luftschaukel und vor allem die Menschen auf der Straße, weder die reichen und angesehenen, noch die Al Capones, sondern den kleinen Mann, der in der großen Stadt kümmerlich dahinsiecht.
So entstand, von einem Outsider gedreht, eines der erschütterndsten Filmdokumente über das „Paradies Amerika“. Einzelne Szenen sind unvergesslich: der Antrieb des Viehs in die Schlachthäuser, zerlumpte Arbeitslose zu Füßen eines pompösen Denkmals, ein Alkoholvergifteter, der sich mitten auf einer belebten Straße in Krämpfen windet. [3]
Ein Film, den man unbedingt erlebt haben muss, um wirklich zu wissen, was „Filmreportage“ heißt. Nur ein wirklicher, reifer Künstler konnte sich so äußern wie hier geschehen. Das ist die Illusion von Chicago, mit seiner Aktivität, Atmosphäre, Phantastik. Mit seinen krassen Gegensätzen, seinem rasenden Lebensrhythmus. Da gibt es Bilder von einer Eindringlichkeit, die in Erstaunen setzt. Einstellungen, die frappieren. Vorbildlich montiert, packend von Anfang bis zum Schluss, spricht dieser stumme Film stärker zu uns als mancher „Ton“-Film. [4]
Schon viele Städtebilder sind über die weißen Leinwände unserer Lichtspieltheater gerollt – gute und böse, falsche und wahre, gestellte oder erfasste, propagandistischen oder wohltätigen Zwecken dienstbar. Städtefilme, bei denen man aus dem Gähnen nicht herauskam, – und solche, bei denen das der Schnitt nicht zuließ. Dieser Film aber, der zum erstenmal seit der Geschichte des Kulturfilms eine Stadt so zeigt, wie sie tatsächlich ist, nämlich von ihrer negativen Seite her – – ohne die positiven totzuschweigen! – – dieser Film verdient besondere Anerkennung. Zunächst um seiner Sachlichkeit willen – – da gibt es kein Bild, das etwa um seiner dekorativen, ästhetischen Wirkung wegen aufgenommen worden wäre, keine noch so kleine Stelle, die irgendwie „gestellt“ oder „gemacht“ wirkt. Das ungeschminkte Bild einer gigantischen Riesenstadt von heute, erst von ihrer Peripherie aus generell, – dann aber mit Nüchternheit aus der Nähe betrachtet. Hauser verschweigt nichts, was – für den Verkehrsverein der Stadt Chicago, falls es einen gibt – kompromittierend sein könnte. Er zeigt aber ebensowenig, was für die ewig Missvergnügten Anlass zu einer politischen Denunziation sein könnte. Ein Film von Kultur, mit Herz und Verstand gemacht, intelligent gesehen und virtuos erfasst. [5]
Heinrich Hauser schreibt Bücher und er macht Filme. Beide sind, so wie sie sich präsentieren, aus einem Guss. Sie sind Emanationen einer Persönlichkeit. Man muss das Geschaffene also als Ganzes werten.
Dieses eben macht des Hauser-Filmwerks Reiz aus. Es ist ein Autoren-Film, optisches Geistesprodukt eines Mannes, der zur Kamera greift, wenn die Schilderung mittels gedruckten Wortes ihm zu abgegriffen erscheint.
Autorenfilm -, wir haben dieser Gattung nicht allzu viele.
Heinrich Hauser sieht Chicago, und wir sehen es mit ihm. Und da stellt es sich heraus, dass diese Weltstadt am Rande des Michigansees hinter der offiziellen Fassade des Weltstandards an Kriminalität in beängstigendem Tempo Flachland zu Häuserreihen umwandelt.
Die Hauser-Kamera zeigt uns noch viel mehr. Vom Fluss her wird man sacht in die Stadt geschwemmt. Auf Raddampfern, die dem Freund unserer Jungensjahre, Tom Sawyer, den Inbegriff an Eleganz bedeuteten.
An der Metropole-Peripherie nimmt der Begriff des Siedelns Gestalt an. Bagger furchen die Erde, Krane schneiden gleich Sauriern die Luft. Maschinenbilder mit Teilausschnitten wie zuvor das ewige Schaufelrad des alten Flussdampfers; als Fortbewegungsmoment.
Maschinen, nur Maschinen? – wie fließend ist das alles, wie eindrucksstark im Bild-Rhythmus. Das ist keine Symphonie der Arbeit, kein hohes Lied des Fabrikationsbetriebs. Nur: Ein Stückchen Leben, wie es halt in Wirklichkeit ist. Und das gerade hat jenes unwägbare… keine Doktrin vermags zu ersetzen.
Noch das Uncharakteristische wird typisch. So der Verkehr mit dem Durcheinanderhasten. Oder die grandiose Fahrt auf der Hochbahn, mitten durchs Herz Chicagos.
Immer wieder ist das rein Bildmäßige dichterisch erfasst. Das gleiche Panorama wird von einem Dutzend wechselnder Kamerastandpunkte eingefangen; und in der Veränderung schafft es die Summe der Eindrücke. Die Brücke als Vedute, die Zufälligkeit des Moment-Kurbelns noch instinktiv-ästhetisch ausgewogen: Das ist nicht Kunstgewerbe, sondern Kunstwerk.
Dieser Weltstadtbericht zeigt, was ist. Die herumlungernden Arbeitslosen, den Trödel-Markt des Unter-Proletariats: Elendsgestalten, gar nicht romantisch; Mulattenkinder [sic!], in tiefstem Schmutz zu Hause. Das nimmt Gestalt an, tönt Leben, auch in der stummen Filmform.
Die Kamera erfasst es, ordnet Bewegungsvorgänge zu einem Zeitbild. Dessen Kontraste zur Gepflegtheit der Parks jenseits der Armutsquartiere bilden Grünflächen, auf denen Arbeiter politische Meetings halten: nicht ohne den Polizisten vom Dienst, der den Gummiknüppel mit lässiger Eleganz griffbereit hält. […]
Ein frischer Wind weht aus dem Sehwerk, das den Blick weitet. Zum Schauen bestellt, sind wir beglückt.
Chicago blendet auf! Und siehe da, es offenbart bei näherer Bekanntschaft die Uniformität der zeitgenössischen Menschen-Anhäufung.
Diese Einheit im Differenten, diese Gemeinschaft gleicher Sorgen, bleibt des Hauser-Films stärkster Eindruck. [6]
Hier taucht es auf: das Wort Autoren-Film. Aber es ist nicht die Rede von den Vorgängern der Regie-Auteurs der Nouvelle Vague, hier wird vielmehr ein Begriff übernommen, der in den 1910er-Jahren geprägt wurde, als Schriftsteller eingeladen wurden, für das noch scheel angesehene junge Filmmedium zu schreiben. Zu diesen wirklichen Film-Dichtern gehört Hauser allemal.
Leicht antiamerikanische Töne, die heute wieder sehr modern, aber Hauser selbst fremd sind, schlägt der Fritz Olimsky in seiner Kritik an:
Hauser hat hier mit der Filmkamera auf seiner Reise all das eingefangen, was ihm wesentlich an Chicago war. Und als wesentlich erschien ihm nicht die Welt der eleganten Nichtstuer und süßlichen Flapper, wie wir sie aus den amerikanischen Filmen zum Überdruss kennen. Ihm war es vielmehr zu tun um die Welt des Alltags und der Arbeit, des schaffenden Volkes und der unter die Räder des Wirtschaftsgetriebes Geratenen. Sicherlich ist sein Gesichtspunkt auch einseitig, aber diese Einseitigkeit bedeutet für uns ein gesundes Gegengewicht gegen jene andere Einseitigkeit des herkömmlichen amerikanischen Films, in dem alles süß und lieb und nett zugeht, in dem der sympathische Chef keine andere Sorgen hat, als seine schönbeinige Sekretärin zu heiraten und so. Hier also die Kehrseite.
Besonders bemerkt sei gleich noch, dass ersichtlich an diesen Aufnahmen nichts gestellt ist, hier wurde das Leben abphotographiert, wie es ist, nur eben durch eine besondere Brille gesehen. […]
Ein Amerika, das schlechterdings nichts mit der uns allen sattsam bekannten Welt des amerikanischen Films gemein hat. Und dieses ist das ungeschminkte, wirkliche Amerika. Eine geradezu erschütternde Entdeckung, die wir Kinobesucher da machen. Man hat uns ein Jahrzehnt lang belogen und betrogen, jetzt zerrinnen alle Amerikaillusionen, und wir sehen eine bittere, alles andere, als verlockende Wirklichkeit, sehen statt der sonst im amerikanischen Film beneidenswerten Sorglosigkeit Brutalitäten des Wirtschaftskampfes, die einen dieses große Vorbild Europas – und das ist Amerika doch für sehr viele – beinahe hassen lehren. Wirklich, dieser Film hat es in sich, er erweitert einem meilenweit das Gesichtsfeld, und das kann man sonst nicht gerade oft behaupten. [7]
Doch was wir in Chicago sehen, das finden wir auch in vielen anderen Großstädten vor. Das ist nicht nur Amerika – das ist eben, um noch einmal Brecht zu zitieren, das Dickicht der Städte:
Man sieht nicht das Chicago der Hollywooder Verbrecherfilme, sondern eine typisch amerikanische Weltstadt. Man sieht ungeheure Kräne an der Arbeit, immer wieder drehen sich Räder… Sind diese Maschinenbilder aber nicht auch für jede andere Großstadt charakteristisch? Hier spürt man deutlich, dass Hauser nicht filmt, sondern photographiert. Sein Auge bleibt an jedem Detail haften.
So relativiert ein anderer Rezensent und resümiert, Hausers erschütternde Bilder von den Armen und Ärmsten, von den Erwerbslosen und Arbeitssuchenden sei unversehens weniger ein Bild Chicagos als ein Bild unserer Zeit. [8]
Siegfried Kracauer sieht die „Frische dieser Reportage“ in Hausers „Unabhängigkeit von der Branche“ begründet: Er schere sich nicht um die fragwürdigen Wünsche des Verleihs, sondern nehme auf, was gute Augen zu sehen vermögen. Stadtrausch hätte dieser Film genannt werden können, denn hier sei der Rausch Bild geworden, in dem einer oft tagelang besinnungslos durch die Straßen fremder Städte treibe.
Hausers Film wird das verdiente Prädikat verweigert
WELTSTADT IN FLEGELJAHREN ist unaufdringlich dialektisch – und das wird ihm zum Verhängnis. Klar, dass der Produzent, Hubert Schonger, angesichts der ausnahmslos positiven Resonanz der Kritik hohe Erwartungen in die Auswertung dieses Films setzt, aber sie werden mit einem Schlag zunichte gemacht, mit einem Federstrich.
Schonger will Hausers Film als Lehrfilm vertreiben, aber das entsprechende steuerbefreiende „Prädikat“ wird ihm von der in Berlin ansässigen halbamtlichen „Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht“, nach ihrem Vorsitzenden Professor Dr. Felix Lampe „Lampe-Ausschuss“ genannt, verweigert.
Die Rote Fahne, das Zentralorgan der KPD, berichtet über den Eklat:
Der junge Schriftsteller Heinrich Hauser hat einen sehr anständigen Reportagefilm geschaffen: Weltstadt in Flegeljahren. Er zeigt deutlich die Klassengegensätze, die in der Riesenstadt Chicago besonders krass hervortreten. Er verschweigt nicht, dass es hinter den pompösen Wolkenkratzerkulissen tiefes Elend und Massenarbeitslosigkeit gibt. Ja, er erlaubt sich sogar zu berichten, dass Arbeits-, Unterstützungs- und Obdachlose in den Parks über die Sowjetunion diskutieren und voll Sehnsucht nach diesem Lande blicken, wo man die „Segnungen“ der amerikanischen Prosperity nicht spürt.
Das war der republikanisch-deutschen Behörde, die darüber zu bestimmen hat, ob ein Film als Lehrfilm gilt und Steuerermäßigung genießt, zuviel des Guten. „Das wirre Durcheinander des Ganzen ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Lehrfilm nicht sein darf. Der Ausschuss sah auch nicht die Möglichkeit, einen Weg für die Verarbeitung des vorhandenen Bildmaterials zu einem den Anforderungen genügenden Bildstreifen aufzuzeigen.“ Mit dieser Begründung wurde der Hauser-Film abgelehnt.
Wir erkennen messerscharf, dass diese „Anforderungen“ Lüge und Gehirnverkleisterung heißen, und dass deshalb der Film nicht [sein] darf… Lehre ist in der Amtssprache des kapitalistischen Staates der Fachausdruck für Verschweigen und Schwindeln. Und ein Film, der die Wahrheit zeigt, kann eben nicht „lehrhaft“ sein. [9]
Über den Stand der Kulturfilm-Produktion im Beiprogramm der Kinos lamentiert auch der Kulturwissenschaftler Rudolf Arnheim, der ein Jahr später das Buch FILM ALS KUNST veröffentlichen wird:
Diese Filme sind wie Fremdenführer für alte Engländerinnen. Das Kinopublikum liebt sie nicht. Es frisst sich durch sie hindurch wie durch einen Grützewall, um ins Schlaraffenland der Harry Piel und Lilian Harvey zu gelangen. Der Kinobesitzer kümmert sich in diesem Fall wenig um die Unlust seiner Kunden. Er spielt den Film im Vorprogramm, weil er dann weniger Lustbarkeitssteuer zu bezahlen hat. Diese Vergünstigung verschafft ihm ein pädagogisches Konsortium: der Lehrfilmausschuss des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, geleitet von Herrn Doktor Günther.
Dieser Ausschuss hat ein gut Teil Schuld daran, dass die meisten Kulturfilme so langweilig ausfallen. […]
Eine unpersönliche Länder- und Völkerschau, Distanz zum Objekt, systematische Aneinanderreihung, lehrreiche Zwischentexte („Schon um 750 n. Chr. siedelten auf diesem fruchtbaren Schwemmland die Normannen und der zielbewussten Führung ihres…“), schematische Aufnahmetechnik. Solche Methoden sind für Atlanten und Lehrbücher am Platze, aber mit diesen kann und soll der Film nicht konkurrieren. Die Herren Lehrer wollen ihn dazu zwingen. Sie fallen dem Künstler in den Arm. Er soll mit seiner Kamera umgehen wie der Landmesser mit dem Theodoliten. Ein Beamter mit Mützenschirm im Nacken. Und sie fordern, dass den Kindern die Welt sanft und nicht zu hässlich gezeigt werde. In der Schulstube soll Ruhe und Ordnung sein, auch wenn draußen Gewalt, Armut und Widersinn herrschen. „Von den sonnigen Höhen grüßt ein Kirchlein munter zu uns herab.“ Dies und nur dies ist für den Unterricht erwünscht.
Heinrich Hauser, der hochbegabte junge Wort- und Bildkünstler, hat es gewagt, seinen Chicago-Film, der ausgezeichnet ist und also die eben skizzierten Forderungen in keiner Weise erfüllt, dem Günther-Ausschuss einzureichen. Hier der Erfolg:
„Weltstadt in den Flegeljahren.“ – Unter diesem eigenartigen Titel will der stumme Bildstreifen einen Bericht über Chicago geben. Gezeigt wird der Mississippi, die Urbarmachung von Urwäldern, schwimmende Güterzüge, ein Schleppzug, Hochbahnen, Seeschiffe und eine Reihe andrer Bilder, die in keinem sinnvollen Zusammenhang zueinander stehen. Das wirre Durcheinander des Ganzen ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Lehrfilm nicht sein soll. Eine Anerkennung als Lehrfilm konnte überhaupt nicht erst in Erwägung gezogen werden. Der Ausschuss sah auch nicht die Möglichkeit, einen Weg für eine Verarbeitung des vorhandenen Bildmaterials zu einem den Anforderungen genügenden Bildstreifen aufzuzeigen.
Das Papier vibriert. Den Herren zittert die Lippe. Der Film wird nicht nur abgelehnt, nein, er ist eine Zumutung, ein Tiefschlag in die edelsten Weichteile der Pädagogik.
In Hausers Film steht die Stadt Chicago nicht als fernes Schaubild vor dem Publikum, sondern man ist mitten in der Stadt, rundherum ragen die Wolkenkratzer, Platzangst erregend, auf, die Autos jagen dicht vorbei, und durch das Fenster der Hochbahn blickt das Auge in immer neue Straßengründe. Amerika-Filme sind nichts Neues, aber kaum je ist es einem gelungen, das unmittelbare Gefühl für die spektakelnde Unruhe, das Alpdruckhafte einer solchen Stadt so kräftig wachzurufen. Dem Schulkind, besonders dem Kleinstadt- und Landkind, könnte durch diesen Film der Charakter der Großstadtzivilisation, auch der zukünftigen, begreiflich gemacht werden. Und Hauser zeigt als Kontrast gegen die weißstrahlenden Märchenfassaden die Abfallhaufen; zerbrochene Menschen, herumlungernde Arbeitslose, zerfallende Autoleichen. Er zeigt den Menschen als Teil der Maschine, er zeigt, wie riesige Maschinenteile am laufenden Band über einen leeren Hof schweben, ohne dass steuernde Hände zu erblicken wären, und fragt: „Wo ist der Mensch?“ Und er zeigt die Menschen zu riesigen Haufen zusammengerottet, nicht nur zur Arbeit, sondern auch zum Vergnügen, in den Strandbädern. Er zeigt spielende Kinder zwischen Schmutz und Verbrechen. Hausers Film ist nicht sanft und nicht unverbindlich, sondern unhöflich und ganz klar in der Stellungnahme.
Der Hauserfilm, schließt Arnheim sein Plädoyer gegen das, was er „Paukerfilme“ nennt, zeige ein Stück Welt, und die Welt sei heute in einem Zustand, den die Pädagogen nicht gern lehrreich nennen. [10]
Der Film, als Lehrfilm vorgesehen, wird als solcher abgelehnt, kommt gar nicht erst in die Kinos, läuft ganz kurz in den Niederlanden und verschwindet für Jahrzehnte in Schongers reichem Archiv.
[→ zurück zur Textstelle]
[12] Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago. (Deutschland 1931) aufgenommen von Heinrich Hauser. Eine Dokumentation von Jeanpaul Goergen. Erscheint zur Wiederaufführung von Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago am 19. März 1995 in der Reihe „Film Montage Grosz“ Arsenal. Freunde der Deutschen Kinemathek e.V. Herausgeber: edition Goergen – 3, Berlin 1995.
[→ zurück zur Textstelle]
[13] Grith Graebner: „Dem Leben unter die Haut kriechen…“ Heinrich Hauser. Leben und Werk. Eine kritisch-biographische Werk-Bibliographie. Dissertation Universität Köln. Shaker Verlag, Aachen 2001, S. 185.
[→ zurück zur Textstelle]
Die Wiederentdeckung einer bewegten Stadt
Es dauert Jahrzehnte, bis WELTSTADT IN FLEGELJAHREN als wichtiges Dokument wiederentdeckt wird. Bei einer Vorführung im Rahmen einer Filmreihe im Hamburger Programmkino Metropolis im August 2000 wird Hausers Film musikalisch von der Gruppe Field begleitet. Die Journalistin Christiane Müller-Lobeck befragt die Kuratoren der Reihe Cinepolis [11]. Die gehen auch auf die musikalische Begleitung, denn WELTSTADT IN FLEGELJAHREN ist ein stummer Film. Eine Filmmusik existiert nicht.
Mathias Güntner: Am Samstag wird die Hamburger Gruppe Field im Metropolis Musik zu Weltstadt in den Flegeljahren [spielen]. Es ist auch ein Stummfilm, einer der letzten seiner Zeit, 1931 gedreht von Heinrich Hauser, der eigentlich Schriftsteller und Reporter war. Der ist damals mit seiner Handkamera im Gepäck einfach nach Chicago gefahren und hat ganz allein diesen 65 Minuten langen Film gemacht. Der Film ist nach seiner Uraufführung in Berlin trotz hervorragender Kritiken in den Archiven gelandet und nie wieder aufgeführt worden. 1995 ist er durch einen Berliner Filmhistoriker wieder entdeckt worden. Gleich daraufhin ist eine Berliner Gruppe drangegangen, ihn zu vertonen. Die Band hat sich aber inzwischen aufgelöst, nachdem sie längere Zeit mit dem Film durch Europa getourt sind. Wir haben uns dann entschlossen, Field, die früher auch schon einige Filme begleitet haben, damit richtiggehend zu beauftragen.
Was machen die für einen Sound?
Mathias Güntner: Das bewegt sich um Drum’n’Bass, Ambient und andere elektronische Musik herum. Aber sie spielen live mit Schlagzeug und Bass und allem Drum und Dran.
Thomas Tode: Der Film ist im Grunde viel besser als der Berlin – Symphonie einer Großstadt von Ruttmann, der in diesem Zusammenhang immer gerne als wichtigster genannt wird. Hausers beleuchtet viel stärker soziale Aspekte. Er ist zur Zeit der großen Depression aufgenommen und er hat auch die Situation der Schwarzen in seinen Film aufgenommen, die man sonst immer vergeblich sucht in den Filmen jener Zeit, oder die der Arbeitslosen.
Die Musikbegleitung ist fortan alternativ: Band oder Flügel. Eine im Niederländischen Filmarchiv gelagerte Kopie wird am 3. April 1997 gefunden. Gezeigt wird die restaurierte Fassung am 20. Dezember 2001 im Cinematheekreeks „de Metropool in het interbellum“ zusammen mit Chaplins THE IMMIGRANT als Vorfilm und Maud Nelissen als Pianistin, neun Jahre später, am 15. April 2010, mit Yvo Verschoor am Flügel. In Italien, am 3. Oktober 2015 im Teatro Verdi, sitzt Philip C. Carli am Flügel.
Hier ist auch der Pianist Charles Janko zu nennen, der zwar nicht die FLEGELJAHRE, wohl aber DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE, einen anderen Film von Hauser, an der Orgel der St. Jakobi Kirche Lübeck und später am Flügel in den Niederlanden begleitet.
Seine Wiederentdeckung verdankt WELTSTADT IN FLEGELJAHREN dem Filmhistoriker Jeanpaul Goergen aus Berlin, der von Mathias Güntner namentlich nicht genannt wird. In der Deutschen Kinemathek recherchiert Goergen 1979 in Unterlagen von Schonger:
In einer der Mappen befanden sich Unterlagen, in denen sich Hubert Schonger bitterlich beschwerte, den begehrten „Lampe-Schein“ der Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht für Weltstadt in Flegeljahren nicht erhalten zu haben. Nachdem der Film am 14. September 1931 die Prüfstelle Berlin passiert hatte, war er am nächsten Tag schon zur Begutachtung vorgelegt, jedoch mit der Begründung „wirre(es) Durcheinander“ nicht als Lehrfilm anerkannt worden. Schonger sah den Vertrieb des Filmes naturgemäß gefährdet, weil Kinos durch die negative Begutachtung für die Vorführung keine Steuervorteile in Anspruch nehmen konnten. [12]
Für den Film selbst, schließt Goergen, sei dies aber möglicherweise ein „Glücksfall“ gewesen, weil das Negativ seitdem unangetastet in Schongers Nachlass geblieben sei: sechs gut erhaltene, später stark geschrumpfte Rollen Originalnegativ. Die Länge im Bundesarchiv ist mit 1502 Metern angegeben, die Zensurlänge mit 1687 Metern.
1993 wird der Film restauriert, zwei Jahre später, am 19. März in der Kinemathek und am 15. September 1995 im Rahmen eines Kongresses der International Association for Media and History wiederaufgeführt, am 24. Januar 1998 im Filmmuseum München.
Eine weitere Renaissance erfuhr Weltstadt in Flegeljahren durch eine Aufbereitung für das Fernsehprogramm des Westdeutschen Rundfunks (WDR), Köln, durch Wilfried Reichart und Hans-Ulrich Werner. Weltstadt in Flegeljahren wurde zu diesem Zweck rekonstruiert, passende Texte aus Hausers Feldwege nach Chicago, Töne und Geräusche wurden unterlegt, und von Hausers damaligen Kamerastandpunkten wurden eigens neue Filmaufnahmen gemacht. Beide Filme – der historische Schwarzweißfilm von Hauser und der zeitgenössische Farbfilm des WDR – wurden zusammengekoppelt zu einer parallel auf dem Bildschirm verlaufenden Montage. Ergänzt wurde der somit neu entstandene Film durch Kommentare von Professoren und Studenten einer Filmhochschulklasse aus Chicago und eines einheimischen Zeitzeugen aus Hausers Tagen zu den Bildern von „gestern und heute“. [13]
Das Experiment wird am 1. Dezember 1998 im WDR 3 ausgestrahlt.
2003 endlich wird Hausers Film erstmals in Chicago gezeigt, unter dem Titel CHICAGO: A WORLD CITY STRETCHES ITS WINGS.
[14] Kleinodien der Fotografie in Hamburg. www.hauser-heinrich.de/Pressetext.html
[→ zurück zur Textstelle]
Der Fotograf
Die Filme sind echte Entdeckungen zu einer Zeit, da Hausers Ruf als Fotograf längst gefestigt ist.
In Hamburg kommt es zu einem sensationellen Bilderfund:
Wie so oft im Leben, führte auch bei der Entdeckung des Hauser Bilderschatzes der Zufall Regie. Es begann eigentlich mit der Vorliebe des Hamburger Werbefotografen Wolfgang-Peter Geller, dem Stöbern auf Flohmärkten. Trotz der knapp bemessenen Freizeit besuchte er auf seinen weltweiten Fotoreisen nahezu jeden Flohmarkt. Dabei entdeckte Geller so manchen persönlichen „Schatz“, den er als Erinnerung an jede dieser besonderen Reisen mit nach Hause nehmen konnte. Seinen größten Fund machte er jedoch vor einigen Jahren quasi direkt vor der Haustüre. Im benachbarten Winsen an der Luhe (bei Hamburg) entdeckte der Fotograf einen „Schatz“, der für die deutsche Fotogeschichte einen unermesslichen Wert darstellte. In Stapeln von alten und neuen Fotografien fand er neben Bildern von Albert Renger-Patzsch, dem wohl berühmtesten Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“, auch Fotografien, die der Verkäufer als „namenlosen Ramsch“ eingestuft hatte. Als Autorin dieser Bilder, in die sich Geller ganz spontan „verliebte“, war eine ihm völlig unbekannte Fotografin ausgewiesen – eine falsche Zuordnung, wie sich später herausstellte. Der richtige Autor dieser Bilder war kein geringerer als Heinrich Hauser.
Einige Zeit später bietet ihm derselbe Verkäufer weitere Fotos der unbekannten Fotografin an, und so kommt Geller quasi durch die Hintertür in den Besitz des nahezu kompletten Archivs des Folkwang-Auriga Verlags. Unter Leitung von Ernst Fuhrmann veröffentlicht dieser neben Geller auch Bilder von Heinrich Hauser, darunter einen Meilenstein des deutschen Fotojournalismus: die Reportage SCHWARZES REVIER, Resultat einer 1928 unternommenen Reise quer durch das Ruhrgebiet, bei der Hauser mit dem Auto angeblich 6000 Kilometer zurücklegt.
Kein anderer sah die Welt der 20er und 30er Jahre so eindringlich, so intensiv und so innovativ wie Heinrich Hauser.
Gellers Fund mündet in eine Ausstellung in der Hamburger Grauwert Galerie, die vom 19. April bis 28. August 2002 zu sehen ist, und kommt dann ins Folkwang Museum nach Essen. [14]
Weitere Museen, die Hauser-Bilder in ihrem Archiv haben, sind The J. Paul Getty Museum in Malibu, das Musée d’Orsay in Paris, The Art Institute in Chicago.
Heinrich Hauser und Hubert Schonger
WELTSTADT IN FLEGELJAHREN. EIN BERICHT ÜBER CHICAGO ist nicht nur die Geschichte einer großen Stadt, sondern auch die Geschichte zweier Männer, die einiges trennt, die aber doch verwandte Seelen sind. Und sehr viel von diesem Film wird erst verständlich aus der Biographie dieser Persönlichkeiten. Der eine, Heinrich Hauser, ist ein Abenteurer. Es zieht ihn, den Unsteten, oft hinaus in die Ferne. Er schreibt Bücher und Feuilletons, er fotografiert und er filmt. Fotografie und Film – diese beiden Leidenschaften teilt er mit dem Naturfilmer und Produzenten Hubert Schonger. Und beide sind, nur einen Steinwurf voneinander entfernt, am Ammersee unweit von München begraben.
Hauser und Schonger kommen über den Dokumentarfilm DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE zusammen, den Hauser ursprünglich selbst verleiht. Vielleicht kennen sie sich sogar schon früher. 1931 jedenfalls übernimmt Hubert Schonger die SEGELSCHIFFE, die in verschiedenen Fassungen existieren, in seinen Vertrieb (Werner Adomatis schneidet aus dem Material für Schonger 1941 den Kurzfilm MÄNNER, MEER UND STÜRME).
[15] Grith Graebner: Heinrich Hauser. Leben und Werk, a.a.O., S. 384.
[→ zurück zur Textstelle]
[16] Frankfurter Allgemeine, 29. 01. 2006.
[→ zurück zur Textstelle]
[17] Hamburger Abendblatt, 30. August 1961.
[→ zurück zur Textstelle]
Ein Preuße auf hoher See
Heinrich Hauser ist Weltreisender, Schriftsteller, Feuilletonist, Journalist, Redakteur, PR- und Zirkusmann, Technikexperte, Testfahrer, Seefahrer, Flieger, Arbeiter, Barmann, Farmer, Student, Autodidakt, Fotograf und Dokumentarfilmer, Exilant – und ständig auf der Flucht: vor familiären Problemen, vor seinen Schulden, vor einem bürgerlichen Leben, aber er hat, im Gegensatz zu den meisten, wenigstens den Mut, ins Ungewisse zu fliehen. Würde er heute leben, wäre dieser bedeutende Vertreter der Neuen Sachlichkeit gewiss ein multimediales Genie.
Hauser kommt am 27. August 1901 in Berlin zur Welt. Er bezeichnet sich stets als Preußen. So steht es in seinem Geburtsschein. Er grenzt sich vom Deutschen ab. Sein Vater ist Arzt und zu Beginn des „Großen Krieges“ – wie er damals heißt – Rittmeister der Landwehr. Die Mutter entstammt dem dänischen Adel, ist musisch begabt, nach ihrer Scheidung Geigerin im Orchester des Staatstheaters Weimar und Schülerin von Rudolf Steiner. Heinrich lebt bei ihr und besucht das humanistische Gymnasium in Weimar. Vater und Sohn verstehen sich nicht, und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Sein Vater ist sieben Mal verheiratet. Heinrich selbst bringt es auf fünf Ehen.
Sehr früh beginnt sich Heinrich für Maschinen, Technik, Flugzeuge und Automobile zu interessieren. Gleichzeitig fühlt er sich von der Natur angezogen. Dieser Widerspruch bestimmt sein Werk. Er löst sich auf See auf, und in der Luft, wo Natur und Technik so etwas wie eine Symbiose eingehen.
Als 17-Jähriger wird Hauser Seekadett in der Kaiserlichen Marine und tritt nach der Novemberrevolution in das Freikorps Maercker ein, welches zum Schutz der Nationalversammlung in Weimar eingesetzt wird. Ein Praktikum bei den Krupp-Werken in Essen, das ihn zum Ingenieurstudium befähigen soll, muss er nach einem Arbeitsunfall im Sommer 1919 abbrechen: er stürzt von einer Eisenbahnbrücke, liegt sechs Wochen im Krankenhaus, aber die Verbindung zur Technik bleibt intakt. In Wilhelmshaven, als Unteroffizier auf einem Torpedoboot der „Eisernen Flottille“, erlebt er den Kapp-Putsch. Wieder an Land, schlägt er sich durch, nimmt Gelegenheitsjobs an. Dann rafft er sich auf, beginnt im Oktober 1920 ein Medizinstudium in Jena, bricht es ab, wechselt im Januar 1922 an die Universität Rostock, aber er kann nicht stillsitzen. Er hält sich in verschiedenen Städten auf, versackt immer mehr, kommt unter die Räder. Er stiehlt aus reiner Not. Es zieht ihn hinaus in die Welt. Er muss weg, raus. Er heuert als Leichtmatrose auf dem Frachter „Hannover“ an. Die Fahrt geht nach Schweden, nach Afrika und im November 1922 nach Australien, wo er den Winter und das Frühjahr verbringt. Auf diese Weise beginnt seine lebenslange Flucht, und sie hat nie aufgehört. Mit einem anderen Frachter kehrt Hauser im Sommer 1923 nach Deutschland zurück.
Zurück an Land ist er wieder ziellos, probiert verschiedene Dinge, assistiert zum ersten Mal bei Filmaufnahmen, acht Tage lang. Im Kreis des Malers Walter Spies lernt er den Autor Jürgen von der Wense kennen und beginnt sich für die Schriftstellerei zu interessieren: „Jetzt werde ich schreiben. Wunderbar ist es, zu schreiben, so dass man selber es nicht sieht, geheimnisvoll Zeile um Zeile abzutasten mit der Breite des Fingers…“
Der Däne Johannes Vilhelm Jensen, ein späterer Kollege und Freund bei der Frankfurter Zeitung, Literatur-Nobelpreisträger von 1944, bemerkt: „Zwei Dinge scheinen sich in Heinrich Hausers Person vereinigt zu haben: Die Fähigkeit zu schreiben und die Fähigkeit, sich Stoff zu verschaffen.“ In Thematik und Ausdruckskraft wird Hauser deshalb gelegentlich mit den ganz großen Erlebnisschilderern, mit Jack London und Joseph Conrad verglichen. Für Hauser ist das Schreiben wie Musizieren: „Habe Papier eingespannt und alle zehn Finger auf die Tasten gelegt. Es ist wie in der Kirche, wenn der Organist die Hände ausspreizt auf der Klaviatur: es dauert eine ganze Weile, bis das Präludium ertönt.“
Hauser ist musisch im Sehen: ein Augenmensch.
Spies, mit dessen Schwester, einer Berliner Primaballerina, Hauser eine Zeitlang liiert ist, ist ein Freund des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau und bei den Dreharbeiten von NOSFERATU mit dabei. Hauser schließt sich Spies an, und gemeinsam reisen sie nach Java. Spies bleibt auf Java und lässt sich später auf Bali nieder. Er kommt während des Zweiten Weltkriegs durch eine japanische Fliegerbombe um. Hauser kehrt im Januar 1924 von Java und Indien nach Deutschland zurück. Im Mai bewirbt er sich bei einer Berliner Abendzeitung und wird nach Südamerika geschickt. In Batavia erkrankt er an Malaria. Im Oktober kehrt er zurück. Über einen Feuilletonbeitrag kommt er eine Zeitlang beim Zirkus Sarrasani unter, leitet dort, was sie schamvoll „literarische Abteilung“ nennen, und etwas später, aber konkreter die Verwaltung,
Hauser beginnt auf seinen Reisen, während er oft jede Menge Jobs ausübt, Geschichten zu sammeln. Seine Erlebnisse bilden den Grundstock für Reisebücher, Reportagen und Romane. 1929 wird Hauser für seinen Roman BRACKWASSER mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet.
Chronist der Weltwirtschaftskrise und der Machtergreifung
Kurz vor und während der Weltwirtschaftskrise entwickelt Hauser eine ungeheure Aktivität. Es wird die künstlerisch produktivste Zeit seines Lebens. Im Auftrag des S. Fischer Verlags, Mai bis August 1929, reist er nach Westindien und schreibt weiter Reiseberichte. (Die Verbindung mit Fischer geht 1933 zu Bruch, als er mehr oder minder seinem Auftragswerk MANN LERNT FLIEGEN eine Widmung für Hermann Göring voranstellt.) Hauser wechselt zu Eugen Diederichs, schreibt querbeet für Zeitungen und Magazine: Die Tat, die Frankfurter Zeitung, die Neue Rundschau, die Berliner Illustrirte, Die Woche, aber auch für Otto Strassers Schwarze Front.
Er reicht Patente ein, unternimmt eine strapaziöse Ostpreußen-Reise, mit Zug, Auto, Fahrrad, Boot, zu Fuß. Er wird viel gelesen – und kann sich doch nur mühsam über Wasser halten.
Als die Nazis an die Macht kommen, will er sich aus allem raushalten und kann es doch nicht. Er schreibt über die Beisetzung Hindenburgs im Tannenberg-Denkmal, geht auf Distanz zu Hitler, weil der nicht dem letzten Willen des greisen Reichspräsidenten gefolgt ist, ihn auf Gut Neudeck zu bestatten, sondern ihm ein „Nationaldenkmal“ gesetzt hat. Hauser spricht von „geistiger Emigration“. Er will über neutrale Themen aus der Industrie schreiben. Er wird Testfahrer für die Adam Opel AG und schreibt über Automobile.
Hitler versus Germany
1936 reist Hauser ein zweites Mal nach Australien, mit dem Segelschiff „Pamir“. Er schreibt ein Buch über die Fahrt. 1937 verlässt seine dritte (wie die zweite jüdische) Ehefrau Ursula Deutschland und geht in die USA, die beiden Kinder, Tochter und Sohn, folgen ein Jahr später. Hauser hält sich, über Kanada kommend, eine Zeitlang in New York auf, geht für eine Reportage des Magazins Fortune dann doch noch einmal nach Deutschland. Angewidert von den Novemberpogromen und vorgewarnt durch die Zuspitzung der „tschechischen Frage“, wegen kritischer Äußerungen über das Vorgehen gegen Juden vor die Gestapo zitiert, verschafft er sich über Leute, die er bei Lloyd’s kennt, ein Schiffsticket in die USA. Vor der Abreise begegnet er zufällig seinem Vater. Die beiden sprechen nicht miteinander. Das ist im März 1939.
Hausers Fortune-Reportage erscheint auch als Buch: BATTLE AGAINST TIME: A SURVEY OF THE GERMANY OF 1939 FROM THE INSIDE. In einer zweiten Auflage wird das Buch 1940 unter dem Titel HITLER VERSUS GERMANY veröffentlicht.
In den USA setzt Hauser seine schriftstellerische Tätigkeit fort. Er lebt zuerst in Greenwich Village, dann auf einer Farm 60 Meilen westlich von Albany. Er muss jede Arbeit annehmen. Er schreibt, unter dem Pseudonym Alexander Blade, Science-Fiction-Stories für die Amazing Stories und gehört bald zu den profilierten Vertretern dieser von der etablierten Literaturkritik wenig geachteten, von ihm selbst sehr geschätzten Literaturgattung. (Den Durchbruch der utopischen Literatur auf dem amerikanischen Markt hat er nicht mehr erlebt.) Er betätigt sich als Ghostwriter, übersetzt, hält Vorträge vornehmlich auf High-School-Abschlussfeiern. 1941 heiratet er ein viertes, 1945, wenige Monate nach Kriegsende, ein letztes Mal. Im November 1948 verkaufen er und seine Frau Rita die „beweglichen Gegenstände“ der Farm auf einer Auktion. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft im Nachkriegsdeutschland.
Das Schicksal eines Remigranten
Er findet sich anfangs im Nachkriegsdeutschland nicht zurecht, dann endlich kann er wieder für die Industrie arbeiten und in der Werbebranche texten. Er ist auch für Rowohlt tätig, schreibt Dokumentationen. Im Juli 1954 unterzeichnet er einen Jahresvertrag als freier Mitarbeiter bei Siemens, beteiligt sich dort an einem Filmprojekt, möglicherweise dem erst 1959 fertiggestellten Dokumentarfilm IMPULS UNSERER ZEIT. Doch das entbehrungsreiche Leben zehrt an seinen Kräften: Alkohol, seit seiner Matrosenzeit reichlich konsumiert, Zigaretten, zu wenig Schlaf. Die Kräfte schwinden. Er will sich von seiner Frau trennen, aber die erkrankt an Krebs. Hauser ist überzeugt, dass sie noch vor ihm stirbt. Er ist verzweifelt, schwer depressiv.
Er wird nur 53 Jahre alt. Heinrich Hauser stirbt am 25. März 1955 in Dießen am Ammersee. Sehr gut möglich, dass er durch Schonger an den Ammersee gekommen ist. Seine Frau überlebt ihn um sechs Jahre.
Posthum erscheint als Leihbuch im Gebrüder Weiß Verlag Berlin, später bei Goldmann sein utopischer Roman GIGANT GEHIRN, der den Prozess, der mit der Automatisierung begonnen wurde, weiterspinnt. Das Hirn des Titels ist ein Supercomputer, der über eine Kapazität von 2500 menschlichen Gehirnen verfügt. Das Elektronenhirn hat nicht nur einen autonomen Intellekt, sondern auch Charakter und strebt eine Diktatur an.
Sein ganzes Leben, schreibt Grith Graebner in ihrer Dissertation über Hauser, habe er an der Hypothek seiner Kindheit und Jugend getragen, die ihn zu einem Einzelgänger, einem sehr schwierigen, cholerischen, aber auch labilen Charakter mit einem oft sehr ambivalenten Verhalten werden ließ, der Menschen seiner Umgebung schnell verletzen, aber auch zu einem guten Freund werden konnte. [15]
FÜNF EHEN, VIELE BERUFE UND EIN RASTLOSER BERICHT, überschrieb die FAZ im Feuilleton einen Artikel über Hauser: Er sei hyperaktiv gewesen, ein von seinen Visionen Getriebener, immer auf der Suche nach neuen Fahrzeugen und Frauen, nach einem Halt im Strudel der Zeit. Mit Mitte Zwanzig hatte er schon so viele verschiedene Berufe ausgeübt, dass die Angaben zeitgenössischer junger Autoren dagegen verblassen: Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile. Er war Student und Schmuggler, See- und Ehemann, bevor er 1925 den Erfahrungsüberschuss ausschlachtete und anfing, Feuilletons über den „Organismus eines Lastkraftwagens“ oder den „Gesang der Presslufthämmer“ für die „Frankfurter Zeitung“ zu schreiben und an seinem ersten, noch stark vom Expressionismus geprägten Jugendbeziehungsdrama „Das zwanzigste Jahr“ zu arbeiten. Literarisch und politisch schwer einzuordnen, erneuerte er die deutsche Sprache und spaltete die Geister. [16|
Hausers Leben ist spannend wie ein Film. Hausers Leben ist ein Film. Und er hat ja mehrere Filme gedreht.
Der Dokumentarfilmer
Im Auftrag der Frankfurter Zeitung reist Heinrich Hauser mit seiner zweiten Frau nach Irland und trifft den Schriftsteller Liam O’Flaherty. Auf einer zweiten Irland-Tour begleiten sie O’Flaherty auf die Aran-Inseln und drehen dort 1928 einen 18-minütigen Film: MAN OF ARAN. Diese Arbeit wird später mit Robert Flahertys Film gleichen Titels aus dem Jahr 1934 verwechselt, aber dann wird ein Fragment des verschollen geglaubten Hauser-Films gefunden.
Im Auftrag der Reederei F. Laeisz unternimmt Hauser 1930 eine Fahrt auf der „Pamir“. Sie führt von Hamburg nach Chile und dauert 110 Tage. Während der Fahrt erstellt er ein „Medienpaket“ aus Reisetagebuch, Fotografien und Film: DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE.
Auch WELTSTADT IN FLEGELJAHREN entsteht im Zuge einer Reisereportage, für die Hauser Amerika mit einem Ford bereist: FELDWEGE NACH CHICAGO (S. Fischer).
1961 wird sein Migranten-Roman BRACKWASSER unter dem Titel BIS ZUM ENDE ALLER TAGE für das Kino verfilmt. Der Produzent ist ein anderer Remigrant: Seymour Nebenzahl. Nebenzahl hatte vor 1933 Brechts 3-GROSCHEN-OPER sowie Fritz Langs M und das nach Fertigstellung von Goebbels verbotene TESTAMENT DES DR. MABUSE produziert:
Mit einem Seitenblick auf den Publikumserfolg von Suzie Wong hat Franz-Peter Wirth jetzt die Geschichte des Tanzmädchens Anna Suh nach Hausers Roman „Brackwasser“ verfilmt. Die Chinesin, von der bezaubernden Japanerin Akiko mit stillem Charme sehr überzeugend dargestellt, verliebt sich in einen Seemann, der sie auf seine heimatliche Nordseeinsel bringt. Zwischen Rumgrog, Dorftratsch und rauhen Winden gedeiht die „asiatische Blume“ so schlecht, dass sie den feindlichen Insulanern den Rücken kehrt und nach St. Pauli zieht. Da muss der Seemann seiner schlitzäugigen [sic!] Gemahlin mit wilder Entschlossenheit nachreisen, um ein gekünsteltes, der deutschen Geschmacksrichtung entsprechendes Happy-End zu erzwingen. [17]
Neben Akiko Wakabayashi, die durch ihre Mitwirkung in Ishiro Hondas utopischen Kaiju-Monsterfilmen und in dem James-Bond-Film YOU ONLY LIVE TWICE bekannt wird, spielen Helmut Griem, Hanns Lothar, Ursula Lillig, Eva Pflug und Carl Lange.
[18] Ron Schlesinger: Rotkäppchen im Dritten Reich. Die deutsche Märchenfilmproduktion zwischen 1933 und 1945. Ein Überblick. S. 73.
[→ zurück zur Textstelle]
[19] Lotte H. Eisner: Murnau. Frankfurt am Mai,n 1979, S. 219.
[→ zurück zur Textstelle]
Hubert Schonger, Natur- und Märchenfilmer
Hubert Schonger, am 19. Oktober 1897 in Bachhagel, Landkreis Dillingen an der Donau geboren, beginnt nach dem Ersten Weltkrieg ein Ingenieur-Studium, ähnlich wie es Hauser vorgehabt hat. Schonger reizt jedoch die Natur. Mit seiner Kamera fotografiert er Vögel, und aus dem Fotografieren wird eine Leidenschaft und ein Leben für den Film. 1923 gründet er in Berlin die Firma Naturfilm Hubert Schonger und bringt die Dokumentation MELLUM, DAS VOGELPARADIES IN DER NORDSEE heraus.
Die kleine Firma, die alsbald mit einem kleinen Mitarbeiterstab arbeitet, produziert und vertreibt Natur-, Kultur- und Städtefilme, nimmt auch Robert Flahertys großen Dokumentarfilm in Spielfilmlänge, NANOOK OF THE NORTH [NANUK DER ESKIMO], in den deutschen Verleih. 1930 produziert Schonger seinen ersten Spielfilm. Er heißt LOHNBUCHHALTER KREMKE und ist einer der letzten in Deutschland hergestellten Stummfilme. Hermann Vallentin spielt einen Büromenschen, der aufgrund von Spar- und Rationalisierungsmaßnahmen entlassen wird. Sein Weltbild bricht zusammen. Kremke begeht Selbstmord. Regie führt eine Frau: Marie Harder, die den Film- und Lichtbilddienst der SPD leitet und vom russischen Revolutionsfilm beeinflusst ist. Harder kommt 1936 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Anna Sten aus Kiew, wenig später von Sam Goldwyn nach Hollywood verpflichtet, spielt die weibliche Hauptrolle. In weiteren Rollen der russisch-ukrainische Schauspieler Kowal-Samborski, die Kinderdarstellerin Inge Landgut, die wenig später an der Seite von Peter Lorre in M zu sehen sein wird, und Wolfgang Zilzer, der in der Emigration kleine und kleinste Rollen spielen wird (in NINOTCHKA, TO BE OR NOT TO BE, INVISIBLE AGENT und CASABLANCA).
1936 trifft Schonger mit Willy Wohlrabe, dem Inhaber des Jugendfilm-Verleihs, der wie Naturfilm seine Büros am Anhalter Banhnof in Berlin hat, eine Vereinbarung über die Herstellung von Märchen- und Kinderfilmen. Er ist nach Alf Zengerling der zweite deutsche Produzent, der konsequent diese Nische besetzt, und das macht Sinn. Im November 1936 hat der Vorstand der Ufa die Verfilmung von Engelbert Humperdincks Kinderoper HÄNSEL UND GRETEL erwogen, aber angesichts der nicht geringen Herstellungskosten „nur beschränkte Auswertungsmöglichkeiten“ in Kinder- und Jugendmatinéen gesehen. Der Beschluss wird aufgeschoben, das Projekt nie realisiert. Grund genug für Kleinproduzenten, sich auf Märchen einzulassen, die im Gegensatz zu den hochfliegenden Ufa-Plänen preiswerter hergestellt sind. So ist es Hubert Schonger vorbehalten, dessen erste Märchenfilme TISCHLEIN DECK DICH, ESEL STRECK DICH, KNÜPPEL AUS DEM SACK, SCHNEEWEISSCHEN UND ROSENROT, BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN und DIE HEINZELMÄNNCHEN sind, 1940 die erste deutsche Tonfilmfassung von HÄNSEL UND GRETEL zu produzieren, ohne Humperdinck und vergleichsweise unaufwändig. Dennoch: Die Adaption enttäuscht in der Ausstattung nicht. [18] Noch geht Schonger für diese Filme nicht in die freie Natur, sondern lässt sie unter kontrollierten Arbeitsbedingungen im Atelier in der Berliner Lindenstraße entstehen, das früher einmal von der Vitascope und jetzt von einer Tochtergesellschaft der Tobis betrieben wird.
Sein größter Coup kommt, als klar wird, dass Disneys Technicolor-SNOW WHITE AND SEVEN DWARFS (1937) nach langem Tauziehen um Preis und Devisen zwischen Ufa und Bavaria nicht im Deutschen Reich laufen wird. Da stellt Schonger kurzentschlossen eine preiswerte, schwarzweiße Realfilm-Version des Märchens her und annonciert sie in der Branchenpresse als „Bombenerfolg“. Die Zwerge werden von kleinwüchsigen Männern gespielt. Diese „echten Liliputaner“ werden, wie man in der Presse liest, von der Berliner Scala für die Filmaufnahmen ausgeliehen. Ihre Gesangs- und Tanzeinlagen mildern die grausame Handlung des Grimmschen Märchens ab.
Gelegentlich schreibt Schonger auch selbst das Manuskript und führt Regie. Der ambitionierteste seiner frühen Märchenfilme ist das von ihm inszenierte TAPFERE SCHNEIDERLEIN (1942), das auch nach dem Krieg noch erfolgreich in Kindervorstellungen läuft. Hans Hessling spielt den kleinen Schneider, der sich, nachdem er sieben Fliegen erschlagen, mit einer Schärpe und der Aufschrift Sieben auf einen Streich brüstet. Dem Gewitzten gelingt es, zwei urzeitlich auftretende Riesen-Barbaren auszuschalten, die die Gegend unsicher machen, und auf Wunsch des Königs und seiner hinterhältigen Räte zieht er auch noch gegen das Einhorn und ein übles Wildschwein. Als Lohn erhält er die Hand der Prinzessin und das halbe Königreich. Der Komponist des Films, der Dirigent und Pianist Rio Gebhardt, überlebt den Krieg nicht. Er fällt am 24. Juni 1944 an der Ostfront.
1947 zieht Schongers Firma nach Inning an den Ammersee. Hier entsteht ein kleiner Studiobetrieb, eine Scheune wird als Atelier hergerichtet. Aber nicht nur im Studio entstehen die Filme. Im Gegensatz zu den Berliner Produktionen gibt es viele Außenaufnahmen. Die herrliche Berg- und Seenlandschaft der Umgebung wird bald als Kulisse in Agfacolor-Remakes der frühen Filme genutzt.
Aus Naturfilm Hubert Schonger wird mit Schongerfilm ein stark diversifiziertes kleines Unternehmen mit verschiedenen Geschäftszweigen, die im Grunde alle Bereiche des Filmschaffens abdecken. Es gibt kaum einen Zweig, in dem sich Hubert Schonger nicht ausprobiert hat. Er produziert nicht nur Kinder-, Jugend- und Märchenfilme – bis ihm die Freiwillige Selbstkontrolle mit einer Altersfreigabe nicht ab 0, sondern ab 6 Jahren einen Strich durch die Rechnung macht und ihm einen großen Teil des Publikums nimmt. Sein schönster Märchen-Farbfilm, RÜBEZAHL, HERR DER BERGE (1957) mit Franz Essel in der Titelrolle, ist auch einer der letzten.
Schonger stellt auch weiter Spielfilme her, in der Regel Berg- und Heimatfilme: 1948/49 BERGKRISTALL unter der Regie von Harald Reinl, 1957 ZWEI MATROSEN AUF DER ALM mit Anita Gutwell, Helmuth Schneider, Barbara Gallauner, Hans Nielsen und Liesl Karlstadt, 1959 O DIESE BAYERN mit Liesl Karlstadt, Jürgen von Alten und Rudolf Vogel sowie HUBERTSJAGD mit Willy Fritsch, Wolf Albach-Retty, Angelika Meissner, Lucie Englisch (die in Schongers letztem großen Märchenfilm die FRAU HOLLE spielt). 1967 folgt TANJA; DIE NACKTE VON DER TEUFELSINSEL.
Er tauscht seine preisgekrönten Jugendfilme, die FRANZL-Filme zum Beispiel, mit Rank in England aus, betreibt eine Zeitlang mit Heinz Tischmeyer ein Zeichenfilmatelier in Tutzing, gründet unter seinem Namen einen eigenen Filmverleih mit Kurt Hammer als Geschäftsführer. Der Schongerfilm Verleih bringt neue Produktionen wie DAS WUNDER VON FATIMA und Reinls HINTER KLOSTERMAUERN ebenso heraus wie alte Wildwestfilme und deutsche Reprisen (Karl Ritters HOCHZEITSREISE, DIE 3 CODONAS, Rühmanns FEUERZANGENBOWLE). Er kauft Filmlizenzen. Unter anderem erwirbt er Ingmar Bergmans JUNGFRUKÄLLAN, aber auch ein sehr kommerzielles Paket von utopischen und Gruselfilmen der American International Pictures, darunter Roger Cormans HOUSE OF USHER und die Jules-Verne-Verfilmung MASTER OF THE WORLD, beide mit Vincent Price, die er unter der Leitung von Ingo Hermes in eigener Synchron-Produktion „eindeutschen“ lässt. Auch Ausschnittfassungen seiner Filme in 8mm für das Heimkino wertet er aus. Für den Westdeutschen Rundfunk in Köln entsteht unter der Regie von Peter Podehl (in Zusammenarbeit mit Schongers Sohn Ulrich) die sechsteilige Nachmittagsserie DIE HÖHLENKINDER.
In dem von Schonger über die Jahre angekauften Material befinden sich auch 20.000 Meter Schnittreste von F. W. Murnaus Südseefilm TABU. Die große Filmhistorikerin Lotte H. Eisner berichtet darüber in ihrem Murnau-Buch: Hubert Schonger hat zur Zeit aus Graz eine Unzahl von Filmrollen bekommen können, von denen mir seinerzeit Murnaus Bruder Robert sprach. […] Bei der Durchsicht der Streifen im Hause Hubert Schongers habe ich sehen können, dass der Vermerk INSEL DER GLÜCKLICHEN von Robert Plumpe stammt, der aus den vorhandenen Mustern von TABU und einem sehr schönen, in den Film nicht aufgenommenen Fischzug – Insulaner schlagen hier das Meer mit Zweigen, um Fische ins Netz zu treiben – einen neuen Film herzustellen geplant hatte. [19] Schonger schnitt daraus den Kulturfilm REISE ZU DEN GLÜCKLICHEN INSELN, der 1968 erschien.
Mit Auflösung des eigenen Verleihs lässt Schonger seine Lizenzen vor allem durch Gerhard Goldammers Goldeck-Film-Verleih in Frankfurt und durch den Mercator-Filmverleih in Bielefeld auswerten, dem mit Bodo Gaus als Geschäftsführer ein ehemaliger Vertreter des Schongerfilm Verleihs vorsteht.
Hubert Schonger fördert auch junge Filmemacher wie Marran Gosov (die Kurzfilme DAS DENKMAL, ANTIQUITÄTEN), Klaus Lemke (der Kurzfilm HENKER TOM mit Werner Enke) und Peter Fleischmann (der Kurzfilm DIE EINTAGSFLIEGE; HERBST DER GAMMLER, ein langer Dokumentarfilm).
1972, nach einem halben, arbeitsreichen Jahrhundert, zieht sich Hubert Schonger aus dem aktiven Geschäftsleben zurück. Er stirbt am 21. Februar 1978 in Inning.
Zur Musik
Die neue Musik von Andy Miles für Orchester und einen satten Bläsersatz ist im Stil des traditionellen Chicago-Jazz angelegt und erweitert im Lauf des Films dieses Klangspektrum zum Modern Jazz. Damit schlägt die Musik die Brücke zwischen der Entstehungszeit des Films zu Beginn der 1930er Jahre und heute, sie akzentuiert die Montage, reagiert auf verborgene Details und unterstreicht die Modernität von Heinrich Hausers Film, der mit genauem Blick die sozialen Gegensätze der Metropole Chicago und ihrer Menschen registriert. Es ist der Puls dieser boomenden Stadt, einer Stadt voller Gegensätze und großer Versprechen, den die Musik wieder hörbar und erlebbar macht.
Andy Miles, Komponist
Andy Miles studierte klassische Klarinette in Bremen und Hannover, u. a. bei Prof. H. Pallushek. Als einer der jüngsten Klarinettisten wurde er 1991 Soloklarinettist der Hamburger Philharmoniker. Später wechselte er nach Köln an die Soloposition des WDR Funkhausorchesters Köln.
Neben seiner Tätigkeit im WDR Funkhausorchester tritt Andy Miles sowohl in Kammermusik-Formationen wie auch solistisch international auf und spielt mit Orchestern wie den Duisburger Philharmonikern, dem Kammerorchester St. Petersburg, der Slowakischen Sinfonietta, dem Izmir State Symphony Orchestra oder den Peking Symphony Orchestra. Immer wieder sprengt er musikalische Grenzen. Seine Vergangenheit als Saxophonist in Rockbands, als Tinwhistlespieler in Folkbands, als Klarinettist in diversen Jazzformationen und nicht zuletzt als Soloklarinettist in traditionellen Orchestern ermöglicht ihm, sich in verschiedensten Musikgattungen zu bewegen.
Die Restaurierung
Das für die Restaurierung vorliegende Ausgangsmaterial wies starke und durchgehende produktions- und altersbedingte Schäden auf. Diese Schäden umfassten sowohl die physikalischen Eigenschaften des Filmmaterials (wie z.B. Oberflächen und Schichtverletzungen) wie auch Beeinträchtigungen durch chemische Prozesse, die sich im Zuge der jahrzehntelangen Lagerung des Filmmaterials vollzogen.
Ziel der Restaurierung war es, eine unter heutigen Gesichtspunkten hochwertige restaurierte Fassung des Materials herzustellen, ohne dass dabei der altersbedingte Charme und Charakter der Produktion verloren geht. Dort, wo Restaurierungs-Eingriffe das Material zu sehr verändert hätten, wurde auf weitere Korrekturen verzichtet, um näher am Original zu bleiben.
Die digitale Restaurierung wurde mit Korrekturen des Bildstandes und der Bildgeometrie begonnen, d.h. dem z.T. sehr unruhigen Bildstand wurde soweit möglich durch verschiedene Bildstabilisierungsverfahren entgegengewirkt. Geometrische Verzerrungen die sich innerhalb eines Bildes oder auch zwischen aufeinanderfolgenden Bildern zeigten, wurden durch manuelle Retuschen korrigiert.
In einem nächsten großen Arbeitsschritt wurde das deutliche Kornrauschen reduziert, wobei szenenabhängig meist mehrere Durchgänge und Korrekturansätze von Nöten waren. Im Anschluss wurde das meist durchgehend sichtbare Luminanzflackern korrigiert, was bei dem vorliegenden Material die wohl größte Herausforderung darstellte. In den folgenden Arbeitsschritten wurden Schichtverletzungen und zahlreiche Filmschmutz-Mängel eliminiert, ein höchst zeitaufwendiger Prozess, der häufig nur durch hohen Einsatz händischer Korrekturen erfolgen konnte.
Den abschließenden Part der Bildrestaurierung stellte die Lichtbestimmung dar, also die Anpassung von Helligkeit und Kontrastverhalten der Bilder, um so deutlich mehr Details im Vergleich zum flauen Ausgangsmaterial sichtbar zu machen.
PICTURE LOOK, Mathias Bitz
Weitere Stummfilme in der ARTE Edition:
Die Stadt der Millionen.
Ein Lebensbild Berlins (1925)
Ein Film von Adolf Trotz
»Die Stadt der Millionen« ist ein bunter Berlin-Bilderbogen, das erste
abendfüllende Stadtporträt der deutschen Filmgeschichte. Das zu Unrecht vergessene und wertvolle Dokument einer Metropole, die es in dieser Gestalt nicht mehr lange geben sollte. Der Film spiegelt das Lebensgefühl und das wieder erwachte deutsche Selbstbewusstsein nach Krieg und Inflation. Mit neukomponierter Musik für Kammerensemble (2013) von Boris Bojadzhiev und Bowen Liu.
DVD, s/w, 80 Min. + viele Extras und Bonusfilm, Bestnr. 3003
Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1923–26)
Ein Film von Lotte Reiniger
Das atemberaubend schöne Märchen nach Motiven aus Tausendundeine Nacht ist der erste abendfüllende Animationsfilm der Filmgeschichte. Seine Poesie und seine genialen Figuren machen ihn noch immer zu einem Erlebnis.
Die Blu-ray enthält die vom Deutschen Filmmuseum Frankfurt am Main restaurierte Fassung mit zwei neuen Musik-Einspielungen von Frank Strobel und den Gebrüdern Teichmann.
S/W VIRAGIERT, 66 MIN. + EXTRAS, BLU-RAY BESTNR. 8505, DVD BESTNR. 3014
Das Blumenwunder (1922–25)
Ein Film von Max Reichmann
Ein wiederentdecktes Kleinod der Stummfilmgeschichte! In den 1920er Jahren hatte der Film sowohl beim großen Publikum wie auch bei Künstlern und Intellektuellen außerordentlichen Erfolg. Begeistert reagierten Autoren wie Alfred Döblin, Oskar Loerke und Theodor Lessing auf die Dramatisierung des Pflanzenlebens durch die Kamera. Für Walter Benjamin zischte gar »ein Geysir neuer Bilderwelten auf.« Eduard Künneke komponierte die Musik, rekonstruiert von Frank Strobel.
DVD, S/W, 72 MIN., BESTNR. 3008
Orlacs Hände (1924)
Ein Film von Robert Wiene
Der Film gehört zu Klassikern des Horrorfilms, halb Arthouse, halb Splatter: Ein Pianist gerät in die Fänge eines gerissenen Verbrechers, der ihn zum vermeintlichen Mörder seines Vaters werden lässt. Mit den beiden Stummfilm-Ikonen Conrad Veidt und Fritz Kortner hochkarätig besetzt, markiert der Film einen Höhepunkt des expressionistischen Stummfilms. Mit der neuen Musik von Johannes Kalitzke.
S/W, 95 MIN., BLU-RAY BESTNR. 8511, DVD BESTNR. 3017
Hunger in Waldenburg (1929)
Um’s tägliche Brot / Morgenröte / Kohle als Honorar
Phil Jutzi, Wolfgang Neff, Uwe Mann
Die katastrophalen Lebensumstände im schlesischen Bergbaugebiet Ende der 1920 Jahre. Elend herrscht noch immer im heutigen Wałbrzych, wie ein aktueller Dokuessay zeigt.
DVD, S/W, CA. 228 MIN., VIELE EXTRAS, BESTNR. 3013
Stadt ohne Juden (1924)
Ein Film von Hans Karl Breslauer
»Die Stadt ohne Juden« nannte Hugo Bettauer 1922 seinen Roman, der die damals noch utopische Vorstellung einer Vertreibung der Juden aus Wien satirisch beschreibt. Nur zwei Jahre später kam der Film in die Kinos.
Das ausführliche Booklet enthält u.a. einen eigens verfassten Text von Elfriede Jelinek.
DVD oder Blu-ray, 87 Min., Bestnr. 3018 oder 8510
Das alte Gesetz (1923)
Ein Film von E.A. Dupont
Der Klassiker um den Burgschauspieler, der aus dem Schtetl kam, in restaurierter Fassung mit der neu eingespielten Musik von Philippe Schoeller. Nuancenreich inszeniert, ist es ein Film über Identitätssuche und Verwandlung, über die Sehnsucht nach Freiheit und Anerkennung sowie über die Vision eines harmonischen Zusammenlebens von Christen und Juden – und auch eine Geschichte des Verlusts.
DVD, VIRAGIERT, 135 + 32 MIN., BESTNR. 3012
True Heart Susie
Ein Film vonD. W. Griffith
In restaurierter Fassung: Das faszinierende Melodram einer aufopfernd liebenden Frau. Mit TRUE HEART SUSIE perfektionierte Griffith die künstlerischen Mittel des Stummfilms, der Film gilt als das eigentliche Meisterwerk des Regisseurs.
DVD, s/w viragiert, 87 MIN., BESTNR. 3004
Das Wachsfigurenkabinett (1924)
Ein Film von Paul Leni
Der deutsche Stummfilmklassiker unter der Regie des Malers und Filmarchitekten Paul Leni in aktueller Restaurierung der Deutschen Kinemathek. Mit der neu komponierten Musik von Bernd Schultheis, Olav Lervik und Jan Kohl.
VIRAGIERT, 80 MIN., BLU-RAY BESTNR. 8513, DVD BESTNR. 3019
Impressum
Redaktion Molto Menz
Design Christin Albert
absolut Medien, Am Hasenbergl 12, 83413 Fridolfing
info@absolutmedien.de
www.absolutmedien.de
© absolut MEDIEN GmbH